1750 - Die Zeitmühle
aber Harry hatte trotzdem das Gefühl, dass sie ihn kontrollierten.
Ihm wurde kalt.
Nur war es keine normale Kälte. Die, die ihn erfasst hatte, kam von innen. Er fühlte sich bedroht, obwohl ihn noch niemand angegriffen hatte. Die Blicke reichten ihm. Sie waren mehr oder weniger unverhohlen auf ihn gerichtet. Jede der Gestalten schien darüber nachzudenken, ob sie sich mit dem Fremden beschäftigen sollten oder nicht.
Harry Stahl wusste auch nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Es war real, aber er hatte noch immer den Eindruck, in einer irrealen Welt zu stehen.
Plötzlich löste sich eine Frau von ihrem Platz. Sie kam direkt auf Harry zu. Es war kein normales Gehen, mehr ein Schlurfen über den Boden. Die Frau trug ein Kopftuch, das ihr Gesicht schmaler machte. Zudem erschien es Harry alterslos. Er sah die graue Haut, und darin stachen die Lippen nur schwach hervor. Als er in die Augen sah, erkannte er den toten Blick, der voll und ganz auf ihn gerichtet war, als wollte er ihn hypnotisieren.
Harry Stahl fühlte sich irgendwie manipuliert. Obwohl er es nicht wollte, tat er nichts, um die Frau an einem Näherkommen zu hindern. Als sie nahe genug herangekommen war, streckte sie ihre Arme aus. Jetzt hätte sich Harry noch wegducken können. Das tat er nicht, und er ließ es zu, dass die Person ihre Handflächen gegen seine Wangen legte und sie leicht drückte.
Es war keine Wärme in den Händen. Aber auch keine Kälte. Die Haut war neutral und auch glatt.
Harry kam nicht weg. Er musste bleiben. Er sah noch immer den Blick auf sich gerichtet, aber er wusste nicht, was diese Person von ihm wollte, bis sie den Mund bewegte und es tatsächlich schaffte, ihn anzusprechen. Und das mit einer Stimme, die neutral klag und auch völlig emotionslos.
»Ein Mensch, du bist ein Mensch. Ich spüre dein Fleisch. Ich spüre deine Wärme. Du bist das Leben. In dir fließt der rote Strom. Auch wir werden leben, wir werden die Zeit überwinden. Unsere ist hier abgelaufen, denn wir kehren zurück...«
Harry hatte alles gehört und jedes Wort praktisch aufgesaugt. Noch konnte er nicht viel mit ihnen anfangen, aber er ahnte, dass er so etwas wie einen Mittelpunkt bildete, denn inzwischen waren die anderen Gestalten näher an ihn herangerückt, und das gefiel ihm gar nicht. Der Kreis wurde eng und noch immer enger gezogen.
Da wurde ihm richtig bewusst, dass die andere Seite ihm nicht mit Freundschaft begegnete. Sie wollten etwas von ihm und ihn wahrscheinlich zu einem der ihren machen.
»Nein!«, keuchte er.
Sein Kopf wurde nach vorn gerissen. Mit der Stirn prallte er gegen die der Frau, der es nichts ausmachte. Dafür hörte er ihre Stimme, die nun kreischte.
»Wir haben einen! Wir haben ihn! Er ist das Leben, das wir uns zurückholen...«
***
Wir waren durch den Elbtunnel in Hamburg gerollt, hatten uns nach Südwesten orientiert und waren irgendwann auch durch einen Tunnel unter der Weser gefahren.
Dagmar Hansen saß am Lenkrad. Sie fuhr sehr sicher und schien die Gegend gut zu kennen. Wir konnten auch ein Teil Autobahn fahren, orientierten uns dann an einem Ort mit dem Namen Wittmund und von dort aus ging es in Richtung Aurich.
Das alles waren keine Entfernungen, aber wir mussten schon auf die Tempobeschränkungen achten. Von Aurich bis nach Wiesmoor war es ein Katzensprung, und wir gerieten wenig später in die Landschaft hinein, die Großefehn hieß. Allerdings wurde das Gebiet aufgeteilt in zahlreiche Orte, die am Ende ihres Namens den Begriff Fehn aufwiesen. Sich als Fremder hier zurechtzufinden war mehr als schwer. Wir sahen auch die Kanäle, fuhren an ihnen vorbei, und das manchmal auf recht schmalen Straßen.
Mit Schrecken dachte ich daran, wenn der Winter mit Schnee und Glatteis zuschlug, da musste man dann verdammt aufpassen, um nicht in die Kanäle zu rutschen. Besonders, wenn man fremd war, so wie wir.
Aber der Name Wiesmoor war gut vertreten auf den Schildern, und bald entdeckten wir auch ein Hinweisschild auf das Hotel. Es lag in einer ruhigen Wohngegend. Zu ihm gehörte ein großes Grundstück, auf dem sich auch ein Parkplatz befand, auf dem wir unseren Corsa abstellen konnten.
»Das haben wir geschafft«, stöhnte Dagmar und schaute auf die Uhr. »Sogar die Zeit ist gut.«
»Ja, früher Nachmittag.«
»Dann lass uns einchecken.«
Wir stiegen aus und gingen auf den Hoteleingang zu. Dabei schauten wir in den Garten, der einen herbstlich bunten Anstrich zeigte. Zwischen den Bäumen gab es genügend
Weitere Kostenlose Bücher