1750 - Die Zeitmühle
Eingreifen zu warten. Die Waffe anheben, auf die Gestalten schießen wie an der Schießbude und dann...
Seine Gedanken wurden unterbrochen, allerdings nicht durch eine Tat der sechs Gestalten. Es hatte sich hinter ihm etwas getan. Er sah es nicht, er hörte es nur, denn da war die Stille unterbrochen worden.
Es gefiel ihm nicht, dass es in seinem Rücken geschehen war. Er konnte nichts sehen, wollte es aber und musste sich umdrehen. Um seinen Magen herum zogen sich die Eingeweide zusammen. Für ihn stand fest, dass er sich nicht mehr allein in der Mühle befand.
Dann vernahm er den heftigen Atemstoß. Es klang mehr wie ein starkes Seufzen, doch Harry glaubte nicht, dass er sich geirrt hatte. Er fuhr herum, schwenkte die Waffen mit – und blieb erstarrt stehen, als er den Mann sah.
Schon beim ersten Hinschauen war ihm klar, dass es sich nicht um eine Gestalt aus der Vergangenheit handelte. Das war einfach zu fühlen. Es lag an der Aura.
Er schaute sich den Mann an.
Er war recht klein. Er war auch nicht mehr der Jüngste. Auf seinem Kopf saß ein dunkler Hut mit einem recht breiten Rand. Von der Proportion her war der Hut eigentlich zu groß. Durch die leicht nach unten gebogene Krempe war auch nicht alles von seinem Gesicht zu sehen, doch der graue Bart fiel schon auf. Der Mann trug eine Jacke, die beinahe schon einem Mantel glich. Dazu eine erdbraune Hose.
Harry Stahl wusste mit dem Anblick nichts anzufangen. Es ging auch keine Gefahr von dem Mann aus, und durch die geringe Größe erinnerte er ihn an Rumpelstilzchen.
Aber er wusste auch, dass er ihn nicht unterschätzen durfte, denn diese Gestalt stand nicht grundlos hier. Es war gut vorstellbar, dass sie mit der anderen Seite kooperierte.
Da der andere nichts sagte, unterbrach Harry Stahl das Schweigen. Mit halblauter Stimme fragte er: »Wer bist du?«
»Ich heiße Henry.«
Den Namen hatte Harry zwar schon gehört, aber nicht im Zusammenhang mit dieser Person.
»Und weiter?«
»Ich bin in unserer Zeit ein Heimatforscher, aber ich bin noch mehr, denn man hat mich zum Hüter der Mühle erkoren, um die alten Geschichten wach zu halten...«
***
Ich schlich vor. Dagmar ging hinter mir her. Wir beide kamen uns irgendwie vor wie zwei Menschen, die in die Höhle des Löwen gingen, ohne den Löwen jedoch zu Gesicht zu bekommen, jedoch spürten, dass sich etwas anderes ausgebreitet hatte, das nicht zu beschreiben war. Es war existent und doch nicht zu sehen. Da musste man schon eine gewisse Sensibilität aufweisen, um es zu spüren. Und genau das tat mein Kreuz, denn es schickte mir wieder seine schwache Ausstrahlung über die Haut, was ich wie einen warmen Schimmer empfand.
Dagmar ging nach rechts, ich nach links. Wir sahen beide die großen Steine, auch das alte Mahlwerk, dann eine Treppe, die nach oben führte, wo sich der Trichter befand. Wir sahen die alten Säcke an der Wand, die zum Teil schon zu Staub zerfallen waren.
Unter unseren Füßen bewegten sich die alten Holzbohlen, auf denen eine Schicht aus Staub lag. Dagmar war noch ein Stück zur Seite gegangen, bevor sie stehen blieb und sich langsam umdrehte, damit sie mich anschauen konnte.
»Niemand da, John«, sagte sie mit leiser Stimme.
Für mich hörte es sich an, als würde sie selbst nicht daran glauben.
»Ja, das scheint so.«
»Bist du dir auch nicht sicher?«
»So ist es.«
»Und jetzt?«
Ich konnte ihr keine genaue Antwort geben. Diese Mühle war und blieb für mich ein Rätsel. Was sollte ich sagen? Ihr Hoffnung machen, wo ich momentan selbst keine sah?
»Aber ich möchte nicht von hier verschwinden, John.« Sie sah aus, als wollte sie mit dem rechten Fuß hart auftreten, überlegte es sich dann aber anders. »Es ist zwar nichts zu sehen, doch ich weiß, dass diese Mühle nicht normal ist. Hier lauert etwas unter der Oberfläche. Es ist böse, sehr böse, und ich weiß, dass Harry es entdeckt hat. Es muss hier etwas geben, das einen Besucher aus unserer Zeit zurück in die Vergangenheit führt, aber ich weiß leider nicht, was es ist.« Sie schaute mich hoffnungsvoll an. »Du vielleicht?«
»Leider nein.«
»Und was ist mit deinem Kreuz?«
Mein Lachen fiel mager aus. »Ich kann mich darauf verlassen, das ist alles. Es warnt mich, nur kann ich dir nicht sagen, wovor es mich warnt. Das ist leider unser Problem.«
So intensiv wir uns auch umschauten, es war nichts zu sehen, was uns gefährlich werden konnte. Und doch waren wir hier richtig. Hier lauerte etwas, das sich im
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