1772 - Ein Grab in den Bergen
hatten und dass sie völlig von der Rolle gewesen waren. Keiner hatte so richtig nachvollziehen können, wer oder was da vor ihnen gelegen hatte.
An einen Engel hatten sie kaum glauben können. Es war ihnen erst später bewusst geworden, um wen es sich bei dem Fund handelte. Zwar hatten sie selbst über Engel gesprochen, aber erst hier in der Stadt glaubten auch sie daran, dass es sich bei der Gestalt um einen Engel handelte.
Fragen durften auch gestellt werden, und eine Frau meldete sich zuerst. »Sie haben aber nicht mehr über ihn erfahren – oder?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Rudy und strich durch sein dichtes braunes Haar. Im Gegensatz dazu wuchs auf dem Kopf seiner Freundin hellblondes langes Haar.
»Konnten Sie möglicherweise einen Kontakt zur Welt der Engel aufnehmen?«
»Nein, können Sie das denn?«
»Ja, das kann ich. Ich rede mit ihnen. Sie sind mir sehr hold, und ich hätte diesen Engel gern selbst entdeckt, das können Sie mir glauben.«
»Aber er ist tot, und Sie kriegen ihn auch nicht wieder lebendig.«
»Weiß man das, junger Mann? Sie können nicht Äpfel mit Birnen vergleichen und auch nicht Engel mit Menschen. Das ist nun mal so. Damit muss man sich abfinden.«
»Ja, alles klar. Sie kennen sich ja wohl aus.«
»Ich hoffe es.«
Die Frau saß hinter uns. Bisher hatten wir sie nur gehört und nicht gesehen. Das änderte sich, als ich mich umdrehte und sie drei Reihen schräg hinter mir sitzen sah.
Es war eine Frau in der Mitte des Lebens. Sie hatte ein schmales Gesicht und silberblonde Haare. Die Haut war recht blass. Überhaupt wirkte die Person irgendwie leicht vom Weltlichen entrückt.
»Kennst du sie?«, fragte ich Maxine.
»Nein, John, die sehe und höre ich heute zum ersten Mal. Aber Dundee ist auch kein Dorf. Hier kann nicht jeder jeden kennen.«
»Das sehe ich.«
»Willst du sie denn näher kennenlernen?«
»Ich denke schon.«
»Das lässt sich machen, John.«
Es wurden noch einige Fragen gestellt, die meisten aber wollten näher an den Engel heran, um ihn besser studieren zu können, wobei manche eine Gänsehaut bekamen.
Wir ließen ihnen den Vortritt. Die beiden Sicherheitsleute achteten darauf, dass keiner zu dicht an die Glashülle herantrat.
Gänsehaut und Andacht.
So konnte man die Gefühle der Menschen beschreiben, die vor dem Engel standen. Einige von ihnen schlugen auch Kreuzzeichen, andere wischten über ihre Augen, in denen Tränen glitzerten.
Der Museumschef stand dabei und schaute zu. Aber er gab auch Antworten, wenn er gefragt wurde.
Wir ließen uns mit der Besichtigung Zeit. Ich drehte mich um und suchte nach dem Mann im langen Mantel, und der so plötzlich verschwunden war.
Ich sah ihn nicht. Schade, ich hätte mir gewünscht, ihn hier zu treffen. So aber musste ich mich dem fügen, was hier weiterhin geschah.
Die Menschen schauten, machten sich ihre Gedanken und gingen dann nach nebenan, wo die kleinen Imbisse aufgebaut waren und es auch etwas zu trinken gab.
Natürlich war auch die Presse da. Von allen Positionen her waren Fotos geschossen worden. Jetzt waren die Presseleute satt. Sie unterhielten sich mit dem Museumschef, aber auch nicht lange, denn das meiste war gesagt worden.
Allmählich wurde es Zeit für Maxine und mich, uns den Engel aus der Nähe anzusehen. Ich hätte gern mit den beiden Norwegern gesprochen, was nicht möglich war, denn die hielten sich im Nebenraum auf und gaben dort der Presse ihre Statements ab.
Wir traten so dicht wie möglich an die Gestalt heran und besahen sie aus der Nähe.
Es war ein männlicher Engel, das stand fest. Es gab auch weibliche oder welche, die weder das eine oder andere waren.
Ich sah das Gesicht, das keine Spuren von Verwesung zeigte. Der Engel mit den dunkelbraunen Haaren sah aus, als wäre er eingeschlafen und würde jeden Augenblick erwachen.
Das war nicht der Fall. Er war tot, sofern man einen wie ihn als tot bezeichnen konnte. Ich hätte ihn gern angefasst, aber das war mir nicht vergönnt, weil das Glas ihn schützte. Ich hätte die Abdeckung anheben müssen.
»Was sagst du, John?«
»Er ist ein Phänomen.«
»Genau. Aber glaubst du auch, dass es sich bei ihm um einen Engel handelt? Mal abgesehen von seinen Flügeln. Die hat unsere Carlotta auch. Was fasziniert dich an ihm?«
»Wenn ich das wüsste.«
»Wieso?«
»Ich weiß nicht, ob ich von Faszination sprechen kann. Eher von Neugierde. Ich würde auch gern wissen, auf welcher Seite er steht und warum er starb. Zudem würde
Weitere Kostenlose Bücher