1792 - Die Nachtjägerin
Luft rein, und sie konnte unbehelligt zu uns kommen.
Vor uns blieb sie stehen. Den dunklen Mantel hatte sie bis zum Hals zugeknöpft und jetzt fragte sie mit leiser Stimme: »Alles klar bei Ihnen?«
Ich war ehrlich und sagte: »Nein!«
»Wieso?«
»Wir haben Ihren Zweitkörper gesehen.«
»Okay. Und weiter?«
»Nichts weiter. Er hat sich nicht stören lassen, denn er war damit beschäftigt, etwas aus dem Toten rauszuholen. Dabei ließ er sich nicht stören.«
»Ja, ja, das ist so. Er sucht nach den Seelen. Nach etwas Verwertbarem.«
»Ha, wissen Sie das genau?«
»Nun ja, ich kann es mir vorstellen.«
»Sehr gut«, lobte ich. Sie konnte es sich vorstellen, und das hatte sie mir in einem coolen Tonfall erklärt.
»Was haben Sie denn gesehen?«, fragte Suko.
»Weiß nicht …«
»Haben Sie überhaupt was gesehen?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich hatte Angst. Ich wollte zunächst abwarten, was mit Ihnen passierte.«
»Wir leben noch, aber die Gestalt war leider schneller als wir.«
»Ja, das kann ich mir denken. Haben Sie denn jetzt noch etwas vor?«
»Sie meinen, dass wir die Nacht abwarten und …«
»Nein, nicht warten, sondern auf die Suche gehen.«
»Gute Idee«, lobte ich. »Nur müssten Sie mir dann sagen, wo wir mit der Suche beginnen sollen.«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Eben. Ich denke nicht, dass Sie das Versteck Ihres Zweitkörpers kennen.«
»Dann müssen wir also passen.«
»Genau.«
»So hatte ich mir das nicht vorgestellt«, sagte sie, »aber da kann man wohl nichts machen.«
»Genau.«
»Wann wollen Sie denn wegfahren?«
Suko und ich tauschten einen Blick. Suko sagte: »Vorher möchte ich noch eine Runde über den Friedhof drehen. Ist ja möglich, dass ich jemanden erwische. Du kannst so lange hier bei Irina bleiben.«
»Geht in Ordnung.«
Suko ließ uns allein, und ich dachte daran, dass sich mein Kreuz nicht gemeldet hatte, als wir hinter der Glasscheibe gestanden hatten. Wahrscheinlich war sie zu dick gewesen.
Ich konnte mich immer auf mein Bauchgefühl verlassen, das weiß jeder, der mich kennt. Und auch hier war es mir nicht abhanden gekommen. Ich stand also voll im Licht, war angespannt und holte mein Kreuz hervor, das zuvor in der Jackentasche gesteckt hatte. Ich rechnete damit, dass es mir eine Warnung zuschicken würde, was aber nicht der Fall war.
Das Kreuz schimmerte nicht hell. Es hatte sich nur leicht erwärmt, doch das hätte auch an der Temperatur meiner Haut gelegen haben können.
Wieder drehten sich meine Gedanken um den Zweitkörper und ich fragte mich, wohin er verschwunden sein konnte. Hatte er sich ein Versteck gesucht? Oder brauchte einer wie er überhaupt ein Versteck?
Das wusste ich nicht. Aber mir war klar, dass meine Feinde immer wieder Verbündete brauchten. Das war nichts Neues, das hatte ich oft genug erlebt, und wenn dem so war, dann fragte ich mich, wo die Verbündeten dieser Gestalt steckten.
Hier in der Umgebung?
Keine Ahnung.
Und Irina musste den gleichen oder einen ähnlichen Gedanken verfolgt haben, sonst hätte sie sich nicht so verhalten. Es gefiel mir nicht, dass wir uns beide stumm gegenüber standen, deshalb machte ich den Anfang und sprach.
»Sie haben also nichts gesehen – oder?«
Irina zuckte leicht zusammen, als wäre sie aus ihrer tiefen Gedankenwelt geholt worden.
»Nein, nein, was sollte ich denn gesehen haben?«
»Nun ja, Ihren Zweitkörper. Er ist ja nicht unsichtbar.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war ja nicht hier, sondern hatte mich versteckt.«
Ja, stimmte auch wieder. Ich nickte ihr zu und wollte sie damit beruhigen. Diese Lage war für sie nicht so leicht zu verkraften.
Dennoch fragte ich weiter. »Haben Sie denn nichts gespürt?«
»Was denn?«
»Dass sich Ihr Zweitkörper in der Nähe befindet.«
Sie schauderte zusammen. »Bitte, sprechen Sie nicht davon. Da bekomme ich ein komisches Gefühl.«
»Sie haben Angst vor Ihrem Zweitkörper?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil er so ganz anders ist als ich.«
»Wie anders?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich akzeptiere alles. Sogar das Böse. Das gehört auch zu unserer Welt, und wer schlau ist, der denkt immer daran, dass es das gibt.«
»Das tue ich.«
»Auch jetzt?«
Ich lächelte. »Klar. Wenn mich ein Fall beschäftigt, denke ich immer daran.«
Sie lachte wieder und drehte sich dabei fast um die eigene Achse. Irgendwie kam mir ihr Verhalten gekünstelt vor. Das war kein normales Gespräch zwischen uns. Jeder schien genau darauf zu
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