1792 - Die Nachtjägerin
sahen wir mit eigenen Augen das Phänomen und erkannten, dass Irina uns nicht angelogen hatte.
In der Kabine lag eine Leiche. Und auf ihr hockte eine Gestalt, um von ihr etwas auszusaugen …
***
Es war ein Bild, das man nicht so leicht vergisst. Die Gestalt, die auf der Leiche hockte, uns den Rücken zudrehte und sich so tief vorgebeugt hatte, dass sie mit ihrem Gesicht in die Nähe des Gesichts der Leiche gelangen konnte, war durchsichtig, aber irgendwie auch ein halb stoffliches Gebilde.
Was dort geschah, sahen wir nicht. Die geheimnisvolle Besucherin ließ sich nicht stören. Wahrscheinlich wusste sie nichts von uns, aber wir sahen auch ein Zucken am Rücken, wie das bei einem Vampir oft der Fall ist, wenn er trinkt oder saugt.
Es war eigentlich nichts zu sehen. Nur eben, dass sich zwei Gestalten vereinigt zu haben schienen.
Wir schauten uns an. Jeder dachte darüber nach, welche Möglichkeiten es für uns gab.
Suko deutete gegen die Scheibe. Einschlagen konnten wir sie nicht, sie war zu dick. Ich dachte daran, dass man sie mit einem Schuss zerstören konnte. Das teilte ich Suko auch mit und fragte ihn zugleich, ob er eine bessere Idee hatte.
»Nein, die habe ich nicht.«
»Gut.«
Noch wollten wir warten. Es gab von dieser Seite aus auch keinen Hebel, der es uns erlaubt hätte, das Fenster zu öffnen. Man kam nur von der hinteren Seite ran.
Die Vorderseite des Astralleibes sahen wir nicht. Wir schauten nur auf den Rücken, der uns auch durchsichtig erschien, aber trotzdem eine gewisse Kompaktheit zeigte. Wir sahen dunkles Haar, ebenfalls ein Kleid mit weitem Schulterausschnitt, und wer dieses Gebilde sah, der konnte sich kaum vorstellen, dass eine Gestalt wie sie sich an Toten zu schaffen machte.
Suko startete einen Test. Er schlug einige Male mit der Faust gegen das Glas und musste sich eingestehen, dass es zu dick für uns war.
Also doch schießen!
Ich holte bereits meine Waffe hervor und visierte die Scheibe an. Auch Suko wollte feuern, aber beide ließen wir unsere Pistole sinken, denn hinter dem Glas tat sich etwas.
Wir waren von dem Zweitkörper noch nicht wahrgenommen worden. Er verließ jetzt seine Position und richtete sich auf.
Drehte er sich auch um?
Nein, aber wir mussten erkennen, dass wir zu lange gewartet hatten. Der Zweitkörper war satt geworden und hatte sich aufgelöst. Die Leiche blieb im Sarg zurück, und wir schauten auf ein völlig entstelltes Gesicht.
»So hat die vorher niemals ausgesehen«, flüsterte Suko.
Ich nickte nur. Es hatte mir die Sprache verschlagen. Was die Leiche hatte, das war kein Gesicht mehr, das war irgendein Etwas mit einem offenen Maul. Ansonsten war es zusammengefallen, und unter der dünnen Haut zeichneten sich die Knochen ab.
Das war’s …
Suko schüttelte den Kopf, bevor er sprach. »Das haben wir verpasst, oder?«
»Ja, haben wir.«
»Und wo ist er?«
Ich konnte keine Antwort geben. Für mich stand nur fest, dass wir uns dämlich benommen hatten und ab jetzt dem Phänomen wieder hinterher rennen mussten.
Auf dem Rückweg übernahm ich die Führung. Über meine linke Schulter hinweg sprach ich Suko an. »Glaubst du, dass der Zweitkörper völlig verschwunden ist?«
»Ja.«
»Gut. Und wohin ist er abgetaucht?«
Suko lachte mir ins Ohr. »Ich denke, das sollten wir unsere Freundin Irina fragen. Es kann durchaus sein, dass sie mehr gesehen hat als wir beide.«
Der Vorschlag war gut, und so waren wir beide gespannt darauf, wie sie uns gegenübertreten würde …
***
Wir waren schon vorsichtig, als wir die Tür der Leichenhalle aufstießen, um nach draußen zu treten.
Wir hatten Glück. Die Umgebung sah aus wie immer, und es gab auch keinen Angriff auf uns. Eigentlich hätten wir Irina Dark sehen müssen, sie war aber nicht da, und das hinterließ bei uns alles andere als ein gutes Gefühl.
Ich blieb stehen. »Wir hätten sie nicht allein lassen sollen«, sagte ich.
Suko dachte anders. »Was willst du? Ihr wird schon nichts passiert sein. Oder glaubst du, dass ein Zweitkörper seinen Erstkörper angreift?«
»Ich glaube gar nichts«, sagte ich, »ich will nur wissen, wo sie steckt.« Halblaut hatte ich gesprochen und war nicht nur von meinem Freund Suko gehört worden.
Plötzlich meldete sich eine Frauenstimme. »Danke, dass Sie sich Sorgen gemacht haben, aber ich bin okay.«
Wir drehten uns um. Irina Dark kam auf uns zu. Sie hatte sich versteckt gehabt, was wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee gewesen war. Jetzt war die
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