1792 - Die Nachtjägerin
dass Sie einen Zweitkörper besitzen, der in der Lage ist, sich selbstständig zu machen. Das müssen Sie mir mal sagen, wenn Sie es können.«
»Es ist schwer«, sagte sie.
»Das glaube ich gern.«
»Ich muss das Schicksal tragen. Etwas anderes kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht, ob jeder Mensch einen Zweitkörper hat oder nur ein paar Auserwählte. Ich jedenfalls habe ihn und muss damit leben.«
»Und Sie haben sich nie gefragt, wieso das kommt? Wie es möglich ist, dass ein solcher Körper existiert?«
»Natürlich habe ich darüber nachgedacht.«
»Was haben Sie denn herausgefunden?«
Sie schaute zu Boden. »Ich kann keine genauen Angaben machen. Alles, was ich sage, geschieht unter Vorbehalt. Und ich muss in meiner Vergangenheit herumsuchen.«
»In Ihrer?«
Sie wartete mit einer Antwort. »Nein, das habe ich falsch gesagt. Ich muss mich korrigieren, es lag nicht an mir, sondern an meiner Familie und Herkunft.«
»Der Vorname deutet auf ein bestimmtes Gebiet hin.«
»Ja, wenn Sie Weißrussland meinen, dann haben Sie recht. Meine Großmutter stammt von dort. Deshalb auch mein Vorname.«
»Kannten Sie Ihre Großmutter?«
»Ja.«
»Und?«
Irina lachte. »Sie war in der Tat eine besondere Person. Sie hat mich sehr gemocht. Ich war ihr Liebling, und sie hat immer viel erzählt. Das von einem Land, dessen Existenz ich gar nicht begriff. Sie redete von Geheimnissen, die ihr mit auf den Weg gegeben worden waren. So kamen wir auch auf Unheimliches zu sprechen, über das ich eigentlich nichts hören wollte, aber meine Großmutter dachte anders darüber.«
»Ging es um Geister oder ähnliche Wesen?«
»Ja, genau. Um Wesen oder Kräfte, die über uns bestimmten. Über unser Leben und auch über unseren Tod. Die auch nach unserem Tod noch immer vorhanden sind. Nicht bei jedem Menschen, aber bei zahlreichen.«
»Zu denen auch Sie gehören?«, fragte Suko.
»Das ist mir später klar geworden. Meine Großmutter konnte mich nur darauf hinweisen. Ich habe es später vergessen, doch jetzt weiß ich, was sie gemeint hatte. Sie wusste Bescheid. Sie hatte eine gewisse Nähe zum Jenseits und zu den Toten.«
»Das wissen Sie jetzt?«
Sie nickte Suko zu.
»Und wie haben Sie darauf reagiert?«
»Gar nicht«, sagte sie. »Zumindest früher nicht. Heute sehe ich das anders.«
»Wie anders?«
»Ich bin ein Teil dieses Kreislaufs. Ich habe das Erbe meiner Großmutter zu tragen. Sie hat mir nie gesagt, dass sie einen Zweitkörper hat, obwohl wir öfter über dieses Thema gesprochen haben. Auf sich hat sie es nicht bezogen. Jetzt sehe ich die Dinge anders und muss umdenken.«
Das traf zu. Sie hatte einen Zweitkörper oder einen Astralleib, und wenn wir nach einer Erklärung suchten, dann mussten wir auch über die Großmutter sprechen. Aber sie war leider tot. Wir konnten sie nicht mehr persönlich fragen.
»Reicht das als Erklärung?«, fragte sie uns.
»Ja«, sagte ich, »wir akzeptieren das. Nur ist bei Ihnen das Problem komplizierter.«
»Inwiefern?«
Ich gab ihr meine Erklärung. »Dass Sie einen Zweitkörper haben, ist ja nicht tragisch. Ich kann mir vorstellen, dass zahlreiche Menschen damit gesegnet sind. Aber es kommt darauf an, wie der Zweitkörper angelegt ist. Ob er der einen Seite gehorcht oder der anderen.«
»Wen meinen Sie denn damit?«
»Gut und Böse.« Ich hatte es bewusst so schlicht ausgedrückt, um die Frau nicht zu überfordern.
Sie hatte zugehört. Auf ihrem Gesicht lag eine deutliche Anspannung. Dann nickte sie. »Ja, ich habe schon verstanden, Mister Sinclair. Gut und Böse. Manche können es sich aussuchen, manche nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte mir die böse, die schlechte Seite nie ausgesucht. Ich bin nur eine schwache Frau, die froh ist, dass sie sich mit einem Job im Reisebüro durchs Leben schlagen kann. Und plötzlich gerate ich in einen Strudel, den ich mir so nicht gewünscht habe. Ich wollte keinen Zweitkörper haben, aber man hat mich nicht gefragt.«
»Das ist wohl wahr.«
»Da wir alles so schön analysiert haben, frage ich Sie, was ich jetzt tun soll.«
»Wenn das alles stimmt, was wir uns gesagt haben, dann wird die Zeit kommen, wo Ihr Zweitkörper wieder zuschlägt.«
»Und dann?«
»Keine Ahnung, doch ich denke, dass wir nicht mehr zu lange warten müssen.«
»Bis zur Dunkelheit.«
»Kann sein. Aber er kann uns auch auflaufen lassen, möglich ist alles.«
»Und dann hat er noch eine Waffe«, flüsterte Irina, »das ist für mich gar
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