18 Gänsehaut Stories
über die Bücher gebeugt, bis in der düstern Verschattung der Küche der heisere Uhrenschlag neuerlich anhub: Ich zählte neun Schläge. Wie laut sie doch hallten! Das war ja, als schlüge ein schwerer Hammer die Stunde! Ich klappte das eine Buch zu und öffnete das nächste, denn ich begann jetzt, Geschmack an meiner Arbeit zu finden.
Allein, meine Arbeitslust hielt nicht lange vor. Unversehens ertappte ich mich dabei, daß ich dieselben Stellen zum zweitenmal überlas, noch dazu ganz einfache Abschnitte, die solcher Mühe durchaus nicht bedurft hätten. Und bald danach merkte ich, daß meine Gedanken abschweiften und daß es mir von Mal zu Mal schwerer wurde, sie zur Arbeit zurückzurufen. Meine Konzentration ließ jetzt zusehends nach, und plötzlich entdeckte ich sogar, daß ich zwei Buchseiten überschlagen hatte, doch merkte ich dies Versehen erst gegen Ende der betreffenden Seite. Das schien ja nachgerade bedenklich zu werden! Was war es nur, das mich so sehr ablenkte? Körperliche Müdigkeit konnte es nicht sein – mein Geist war ja, ganz im Gegenteil, ungewöhnlich wach und viel aufnahmebereiter als sonst. So wandte ich mich aufs neue mit aller Aufmerksamkeit meiner Lektüre zu, fest entschlossen, nicht mehr nachzugeben, und für kurze Zeit schien ich damit Erfolg zu haben. Doch nicht lange danach, und ich saß abermals in meinen Sessel zurückgelehnt und starrte ziellos ins Leere.
Es lag auf der Hand: Mein Unterbewußtsein war wachgeworden. Ich mußte irgend etwas zu tun vergessen haben. Vielleicht war die Küchentür nicht versperrt, oder es standen die Fenster noch offen? Ich ging sogleich, um nachzusehen, aber es war alles in Ordnung! Vielleicht war’s das Feuer, um das man sich kümmern mußte? Aber auch der Ofen war wohlversorgt. Ich kontrollierte die Lampen, ging dann nach oben und warf einen Blick in jede der Schlafkammern, schritt auch noch um die gesamte Behausung herum, ja sah sogar im Eishaus nach. Aber ein jedes Ding befand sich an seinem gehörigen Ort. Dennoch – irgend etwas stimmte nicht! Das begann ich stärker und stärker zu fühlen.
Als ich mich nach alldem doch wieder hinter die Bücher gesetzt hatte und neuerlich versuchte, in meiner Lektüre fortzufahren, wurde ich zum erstenmal gewahr, daß der Raum kühler zu werden begann. Dabei war es den ganzen Tag lang drückend schwül gewesen, und auch der Abend hatte keine Erleichterung gebracht. Überdies spendeten schon die sechs großen Lampen Wärme genug, um das Zimmer bei angenehmer Temperatur zu halten. Jetzt aber machte sich hier drinnen eine ziehende Kälte bemerkbar, die wohl vom See heraufkommen mochte, und veranlaßte mich, aufzustehen, um die Glastür zur Veranda zu schließen.
Einen Atem lang hielt ich dort inne und blickte in den Schacht aus Licht hinaus, welcher sich durch die Fenster ins nächtige Dunkel bahnte und den Anfang des Fußpfads sowie einen Streifen Uferwasser erhellte.
In eben diesem Moment sah ich ein Kanu den Lichtschacht kreuzen und schon wieder in der Nacht verschwinden. Es mochte etwa hundert Fuß vom Ufer entfernt gewesen sein und war mit großer Schnelligkeit dahingeglitten.
Mein Erstaunen ob der Tatsache, daß um diese Nachtzeit ein Kanu die Insel entlangfuhr, war nicht gering, denn all die Sommergäste vom jenseitigen Seeufer hatten sich schon vor Wochen auf den Heimweg begeben, und überdies lag die Insel fernab allen Bootsverkehrs.
Von dem Moment meiner neuen Entdeckung an wollte es mit dem Studieren nicht mehr recht weitergehen: Ich wurde das Bild jenes Kanus, das so rasch und verschwommen durch den schmalen Lichtstreifen über den dunklen Fluten hindurchgeglitten war, nicht mehr los. Der helle Umriß befeuerte meine Einbildungskraft aufs
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