18 Geisterstories
vertrauungsvoll weiter auf den kiesbedeckten Pfaden, wo die Johannisbeeren und Stachelbeeren blühten und wo ich deutlich das Summen der Bienen vernehmen konnte, während sie um die Blumenkelche gaukelten. Plötzlich fuhr ein kalter Zugwind durch den Garten, das junge Mädchen erbebte, und ihre Wangen erblichen.
»Friert dich denn nicht?« sagte sie zu mir.
»Mich friert! Merkst du nicht, daß Nacht und Tod herannahen?«
Ich wollte antworten; aber im selben Augenblick fuhr ein neuer, stärkerer, eisiger Windhauch durch den Garten. Die Blätter verwelkten auf den Bäumen, die Blumen senkten ihre Häupter, und die Bienen fielen von den Johannisbeerblüten tot zur Erde.
»Er kommt!« flüsterte sie schaudernd. Ich wollte sie an meine Brust drücken, aber es war, als verblaßte und verschwände ihre Gestalt und stünde undeutlich in der Luft. Da sauste ein dritter, noch heftigerer Sturm durch den Garten. Das Laub flog gelb und dürr in großen Haufen an der Erde hin und wurde dann wild in die Luft emporgewirbelt. Die blühenden Sträucher wurden im Nu schwarz und kahl, Kreuze und Grabdenkmäler traten unter den entblätterten Bäumen hervor; – ich stand wieder auf dem Kirchhofe, und die rostige Wetterfahne knarrte schrill durch die Luft. Neben mir stand ein starker, messingbeschlagener Sarg von Eichenholz mit einer Metallplatte auf dem Deckel. Ich beugte mich hinab, um die Inschrift zu lesen. Da flog plötzlich der Deckel schwer zurück, und aus dem Sarg erhob sich das junge Mädchen, das ich im Sarge gesehen. Ich wollte ihr zu Hilfe eilen, und sie in meine Arme schließen, da – o Grausen! – sah ich an den gläsernen Augen, daß es jenes gefallene Weib sei, das ich bei dem Lichtstumpfe im Fenster hatte nicken sehen. Wild umschlang sie mich und zog mich in den Sarg hinab. Der Atem verging mir, ich schrie laut um Hilfe und – erwachte dadurch.
Mein Zimmer kam mir ungewöhnlich hell vor, aber ich entsann mich, daß wir Mondschein hätten, und dachte nicht weiter daran. Übrigens schienen manche Begebenheiten meines Traumes ihre natürliche Erklärung durch die Umgebungen zu finden, in welchen ich geschlafen hatte. Die Fliege surrte noch in der Tüte wie ein ganzer Bienenschwarm; eines der oberen Fenster war aufgesprungen, und die Nachtluft drang durch dasselbe in mein Zimmer. Ich stand auf, um es zu schließen, und bemerkte erst jetzt, daß das starke, helle Licht, welches mein Gemach erfüllte, nicht vom Monde kam, sondern gleichsam von der Kirche gegenüber ausstrahlte. Im selben Augenblick begannen die Glocken zu läuten, erst gedämpft und wie in weiter Ferne, dann stärker und stärker, bis sie endlich, mit dem Brausen der Orgel vermischt, wie ein gewaltiger Strom von Tönen an mein Fenster schlugen. Ich starrte hinaus und wollte meinen eigenen Augen kaum glauben. Die Häuser in Lademärket waren lauter kleine, einstöckige Gebäude mit Erkern und hölzernen Dachrinnen, die in geschnitzte Drachenköpfe ausliefen. Die meisten hatten Söller oder Altane mit geschnitztem Gitterwerk, und den Eingang bildeten hohe Steintreppen mit Messinggeländern, deren blank polierte Knäufe im Lichtglanze blinkten. Aber was mich am meisten wundernahm, war die Kirche. Diese lag nicht wie sonst; der runde Turm war gegen Kjöbmagergaden und die Fassade der Kirche mit den Strebepfeilern und spitzbogigen Fenstern gegen die Regenz gekehrt. Die Kirche war glänzend erhellt, und jetzt erst wurde es mir ganz klar, daß der starke Lichtschimmer, welcher mein Zimmer erfüllte, von drüben herkam. Sprachlos blieb ich stehen; der Glockenklang und das Brausen der Orgel durchbebten die Luft, und auf dem Mittelgang der Kirche sah ich einen großen Hochzeitszug sich langsam zum Altar bewegen.
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