18 Geisterstories
saß mit vergnügter Miene am Tisch vor einer riesigen dampfenden Teekanne und begrüßte ihn herzlich.
»Guten Morgen, Smitherson, wie wär’s mit einer Kartenpartie?« schlug er vor und streckte ihm seine gewaltige, behaarte Hand entgegen.
Der Aufseher drückte sie, wischte aber dann seine Hand taktvoll, ohne daß der andere es merkte, an seiner Joppe ab.
»Sie kommen recht früh, Duck«, sagte er.
Der Mann lachte.
»Das letztemal, Smitherson, wäre ich fast zu spät gekommen und hab’ mir allerhand anhören müssen! Also, nun verstehen Sie mich?«
Es war nicht das erstemal, daß Duck, der Henker von Pentonville, sein Kartenpartner war, aber heute vertrug Rock die Anwesenheit des Schandtodesknechts nur schwer: er dachte an das rosige pausbäckige Gesicht Hilary Channings, an seinen weißen Jungmädchenhals und sah, nicht ohne Abscheu, wie Ducks Affenhände die Karten befeuchteten und sorgfältig betasteten, ehe er sie auflegte.
Die Partien wurden schweigend gespielt, denn Duck war ein aufmerksamer Spieler und verlor ungern. Das blieb ihm übrigens erspart, der kleine Pennyhaufen neben ihm auf dem Tisch wurde immer größer.
Plötzlich stellte Smitherson eine Frage, und er sollte sich noch viel später darüber wundern, daß er es getan hatte.
»Duck, erinnern Sie sich an Brown?«
Die Stirn des dicken Mannes runzelte sich; er strengte sein Gedächtnis an.
»Brown? Ach, das will ich meinen! … allerdings gibt es nicht wenige dieses Namens. Ich kenne einen Stallknecht … doch nein, ich nehme an, Sie sprechen von einem einstigen Kunden? Mal sehen!«
Er legte die Karten hin und verabreichte sich einen kräftigen Schlag auf einen seiner dicken Oberschenkel.
»Brown? Ah, natürlich erinnere ich mich an ihn! Der war mein erster Kunde in Pentonville. Ich kam damals von Liverpool. Ein großer Schwarzhaariger, eine wahre Bohnenstange. Ich hatte den Kerl ganz vergessen, übrigens, ich vergesse sie alle. Wenn Sie glauben, ich belaste mein Gedächtnis mit ihren Gesichtern! Warum sprechen Sie von ihm?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Smitherson, dessen Lippen ein wenig bebten. »Eigentlich, weil er Ihr erster hier war …«
»Ich arbeite nun schon seit acht Jahren in diesem Gefängnis«, fuhr Duck fort, »und ich beklage mich nicht, denn an Arbeit hat’s hier noch nie gemangelt. Mit dem nächsten da drüben werden es …«
Er zählte unter Zuhilfenahme seiner dicken spateiförmigen Finger.
»Hol mich der Teufel, wenn ich mich erinnere … dreißig, einunddreißig, vielleicht zweiunddreißig … Nein, jetzt hab’ ich’s, Smitherson, fünfunddreißig!«
Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und schien nachzudenken.
»Fünfunddreißig … Warten Sie, ich habe in Dublin begonnen, wo man nie ohne Arbeit ist, und dort hab’ ich vierzig befördert, dann in Liverpool fünfundzwanzig. Ich bin für runde Zahlen. Aber sieh mal an!« Er blickte auf Smitherson aus weitgeöffneten Augen und brach plötzlich in ein dröhnendes Lachen aus. »Das macht bald hundert … Ein Hunderter! Wie schade, bei Gott, daß es hier kein Bier oder Gin gibt, das müßte man begießen.«
Nun wurde der ganze Mensch von seiner schwerfälligen Heiterkeit geschüttelt.
»Ein Hunderter! Mein Hundertster, ha! … Ist das ein Spaß! Morgen muß ich es den Freunden und vielleicht auch den Zeitungsreportern erzählen. Man wird mein Foto in den Blättern bringen, und ich bekomme eine Prämie! Sieh mal an …«
Duck schien plötzlich nachdenklich zu werden, gewann aber bald seine gute Laune wieder.
»Ich denke an das Weib auf dem Jahrmarkt in Bethnal Green, als ich nach London kam. Bei Gott, ich hatte längst nicht mehr an ihre Hirngespinste gedacht, aber jetzt fallen sie mir wieder ein. Es war eine schmutzige
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