18 Geisterstories
zusammengestoßen, der plötzlich vor ihm auftauchte. Der Fußgänger trat wortlos zur Seite, kam jedoch dabei in die hell erleuchtete Zone eines der hohen elektrischen Lichtmaste.
Rock sah ein längliches, schmales und blasses Antlitz, in dem große, tiefliegende Augen dunkle Höhlen bildeten.
»Zum Teufel!« brummte er, »ein wenig einnehmendes Gesicht!«
Er wandte den Kopf und blickte der hohen Silhouette nach, die rasch in der Nacht verschwand.
»Hmm!« murmelte er, »mir scheint doch, den kenne ich, nur war er sonst weniger häßlich.«
Er ging zum Aufsehereingang und drückte auf eine Klingel.
Im vergitterten Viereck eines Gucklochs erschien ein Kopf.
»Aufseher Smitherson! … Ich öffne sogleich!«
Die Schlüssel klirrten, das laute Klicken der Schlösser hallte von der Tür zurück.
»Guten Abend, Clevens. Drei Minuten zu früh, soviel ich sehe. Mehr als genug.«
Smitherson betätigte den Hebel der Stechuhr, stempel te eine Karte und seufzte erleichtert: die Direktion duldete keine einzige Minute Verspätung.
»Sagen Sie, Herr Aufseher …«
Clevens zögerte sichtlich; er war grauhaarig und sah, trotz der dunklen, strengen Uniform, sanft und schüchtern aus.
»Was gibt es Neues, mein Lieber?«
»Haben Sie nicht zufällig … äh, einen Witzbold gesehen, der zum Spaß klingelte und mir, als ich das Guckloch öffnete, ins Gesicht lachte?«
»Niemand«, antwortete Smitherson. »Die Straße war leer, übrigens ist sie um diese Zeit nie sehr belebt. Doch, warten Sie … Unter dem ersten Lichtmast bin ich fast in einen Kerl hineingelaufen, der nicht gerade besonders höflich war …«
»Mit einem großen schwarzen Schlapphut …«
»Das war er!«
Clevens zögerte immer noch; er kratzte sich verlegen am Kinn.
»Er sagte: ›Morgen ist es soweit, nicht wahr, du Menschenschlächter?‹ Ich schlug ihm das Guckloch vor der Nase zu, die ist bei ihm so scharf wie ein Messer, aber ich hörte ihn rufen: ›Um acht Uhr, wie? … genau wie bei mir!‹«
»Bei allen Heiligen!« fluchte Rock. »Hat er das gesagt?«
Clevens kam näher und hauchte:
»Und … und … Herr Aufseher, hatten Sie nicht den Eindruck, ihn zu kennen?«
»Nein«, sagte Smitherson. »… obwohl eigentlich …« Er ahmte automatisch die Geste des Pförtners nach und kratzte sich mit seinen kurzen dicken Nägeln am Kinn. »Tatsächlich schien mir sein Gesicht nicht ganz unbekannt. Es erinnerte mich an jemand …«
»Der hier bei uns war, nicht wahr, Herr Aufseher? Oh, ich bin ja so froh, daß ich bald in den Ruhestand trete. Noch drei Monate, dann fahre ich zurück in die Midlands. Denn ich sag’ es Ihnen, Rock Smitherson, sie kommen wieder …«
»Clevens«, sagte der andere fast flehend, »wenn man in der Direktion erfährt, daß Sie derlei Dinge sagen …«
Der Alte brach in leises bitteres Lachen aus.
»Die können mir nichts anhaben, das sag’ ich Ihnen nochmals; in drei Monaten nehme ich meinen Hut, und dann bekomme ich mein Ruhegehalt. Sie kommen wieder, Smitherson, alle, alle! Ich trage diese Uniform seit vierzig Jahren. Mit zweiundzwanzig hab’ ich sie im Gefängnis von Hull zum erstenmal angezogen. Dann war ich in Liverpool, später kam ich nach London, dann war ich in Newgate, in Reading, und schließlich zum Ende meiner Laufbahn im Mustergefängnis Pentonville. Ich weiß, was ich sage, und die anderen wissen es so gut wie ich, aber sie wagen es nicht zu sagen, weil es die Direktion verbietet. Hören Sie, Rock Smitherson, Sie haben bald dreißig Dienstjahre. Sie sind also weder ein Anfänger noch ein Stümper in dem Beruf. Nun, wagen Sie es zu leugnen? Kommen sie wieder, ja oder nein?«
»Ach, Clevens«, stöhnte der Aufseher, »warum sagen Sie das? Es ist nicht gut, davon zu reden. Keiner tut es hier … Jeder schweigt von
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