18 Geisterstories
den ewigen Wanderern und Landstreichern gehörte, jenen ganz den geheimnisvollen Kräften der Natur hingegebenen Menschen, die er in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder liebevoll schilderte – unverdorbene Gegenbilder zu der seelenlosen technisierten Kultur, die er während seiner Jahre in Nordamerika hassen gelernt hatte. 1920 erhielt Knut Hamsun (1859-1952) den Nobelpreis für seinen Roman ›Segen der Erde‹, einen Lobgesang auf den Bauern, der die Wildnis urbar macht und Land kultiviert. Neben einem tiefverwurzelten Naturgefühl zeigen seine Werke einen ausgeprägten Sinn für das Hintergründige und Irrationale der menschlichen Individualität, für die Mysterien des Lebens, die er dem geschwätzigen Blendwerk der modernen Zivilisation entgegenhält.
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Mehrere Jahre meiner Kindheit verbrachte ich bei meinem Onkel auf dem Pfarrhof im Nordland. Es war eine harte Zeit für mich, viel Arbeit, viel Prügel und selten eine Stunde zu Spiel und Vergnügen. Da mein Onkel mich so streng hielt, bestand allmählich meine einzige Freude darin, mich zu verstecken und allein zu sein; hatte ich ausnahmsweise einmal eine freie Stunde, so begab ich mich in den Wald, oder ich ging auf den Kirchhof und wanderte zwischen Kreuzen und Grabsteinen herum, träumte, dachte und unterhielt mich laut mit mir selber.
Der Pfarrhof lag ungewöhnlich schön, dicht bei der Glimma, einem breiten Strom mit vielen großen Steinen, dessen Brausen Tag und Nacht, Nacht und Tag ertönte. Die Glimma floß einen Teil des Tags südwärts, den übrigen Teil nordwärts, je nachdem Flut oder Ebbe war – immer aber brauste ihr ewiger Gesang, und ihr Wasser rann mit gleicher Eile im Sommer wie im Winter dahin, welche Richtung es auch nahm.
Oben auf einem Hügel lagen die Kirche und der Kirchhof. Die Kirche war eine alte Kreuzkirche aus Holz, und die Gräber waren ohne Blumen; hart an der steinernen Mauer aber pflegten die üppigsten Himbeeren zu wachsen, die ihre Nahrung aus der fetten Erde der Toten sogen. Ich kannte jedes Grab und jede Inschrift, und ich erlebte, daß Kreuze, die ganz neu aufgestellt wurden, im Laufe der Zeit sich zu neigen begannen und schließlich in einer Sturmnacht umstürzten.
Waren da auch keine Blumen auf den Gräbern, so wuchs doch im Sommer hohes Gras auf dem ganzen Kirchhof. Es war so hoch und so hart, daß ich oft da saß und dem Winde lauschte, der in diesem sonderbaren Grase sauste, das mir bis an die Hüften ging. Und mitten in dies Gesause hinein konnte die Wetterfahne auf dem Kirchturm knarren, und dieser rostige, eiserne Ton klang jammernd über den Pfarrhof hin. Es war als ob dies Stück Eisen mit den Zähnen knirschte.
Wenn der Totengräber bei der Arbeit war, hatte ich oft eine Unterhaltung mit ihm. Er war ein ernster Mann, er lächelte selten, aber er war sehr freundlich gegen mich, und wenn er so dastand und Erde aus dem Grabe aufschaufelte, kam es wohl vor, daß er mir zurief, ein wenig aus dem Wege zu gehen, denn jetzt habe er ein großes Stück Hüftknochen oder den Schädel eines Toten auf dem Spaten.
Ich fand oft Knochen und Haarbüschel von Leichen auf den Gräbern, die ich dann wieder in die Erde eingrub, wie es der Totengräber mich gelehrt hatte. Ich war hieran so gewöhnt, daß ich kein Grausen empfand, wenn ich auf diese Menschenreste stieß. Unter dem einen Ende der Kirche befand sich ein Leichenkeller, wo Unmengen von Knochen lagen, und in diesem Keller saß ich gar oft, spielte mit den Knochen und bildete aus dem zerbröckelten Gebein Figuren auf dem Boden.
Eines Tages aber fand ich einen Zahn auf dem Kirchhof.
Es war ein Vorderzahn, schimmernd weiß und stark. Ohne mir weiter Rechenschaft darüber
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