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18 Geisterstories

18 Geisterstories

Titel: 18 Geisterstories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Kluge
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mei­ner Qual ein En­de ma­chen könn­te, in­dem ich mich in die Glim­ma stürz­te …
    Dann kam der Früh­ling, und der Mann ver­schwand gänz­lich.
    Gänz­lich? Nein, nicht gänz­lich, aber für den gan­zen Som­mer. Den nächs­ten Win­ter stell­te er sich wie­der ein. Nur ein­mal zeig­te er sich, dann blieb er lan­ge Zeit fern. Drei Jah­re nach mei­ner ers­ten Be­geg­nung mit ihm ver­ließ ich das Nord­land und blieb ein Jahr fort. Als ich zu­rück­kehr­te, war ich kon­fir­miert und, wie ich sel­ber mein­te, groß und er­wach­sen. Ich wohn­te nun nicht mehr bei mei­nem On­kel auf dem Pfarr­hof, son­dern da­heim bei Va­ter und Mut­ter.
    Ei­nes Abends zur Herbst­zeit, als ich ge­ra­de schla­fen ge­gan­gen war, leg­te sich ei­ne kal­te Hand auf mei­ne Stirn. Ich schlug die Au­gen auf und er­blick­te den Mann vor mir. Er saß auf mei­nem Bett und blick­te mich an. Ich lag nicht al­lein im Zim­mer, son­dern mit zwei­en von mei­nen Ge­schwis­tern zu­sam­men; aber ich rief sie trotz­dem nicht. Als ich den kal­ten Druck ge­gen mei­ne Stirn fühl­te, schlug ich mit der Hand um mich und sag­te: »Nein, geh weg!« Mei­ne Ge­schwis­ter frag­ten aus ih­ren Bet­ten, mit wem ich sprä­che.
    Als der Mann ei­ne Wei­le still­ge­ses­sen hat­te, fing er an, den Ober­kör­per hin und her zu wie­gen. Da­bei nahm er mehr und mehr an Grö­ße zu, schließ­lich stieß er bei­na­he an die De­cke, und da er of­fen­bar nicht viel wei­ter kom­men konn­te, er­hob er sich, ent­fern­te sich mit laut­lo­sen Schrit­ten von mei­nem Bett, durch das Zim­mer, nach dem Ofen, wo er ver­schwand. Ich folg­te ihm die gan­ze Zeit mit den Au­gen.
    Er war mir noch nie so na­he ge­we­sen wie dies­mal; ich sah ihm ge­ra­de ins Ge­sicht. Sein Blick war leer und er­lo­schen, er sah zu mir hin, aber wie durch mich hin­durch, weit in ei­ne an­de­re Welt hin­ein. Ich be­merk­te, daß er graue Au­gen hat­te. Er be­weg­te sein Ge­sicht nicht, und er lach­te nicht. Als ich sei­ne Hand von mei­ner Stirn weg­schlug und sag­te: »Nein, geh weg!«, zog er sei­ne Hand lang­sam zu­rück. Wäh­rend der Mi­nu­ten, die er auf mei­nem Bett saß, blin­zel­te er nie­mals mit den Au­gen.
    Ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter, als es Win­ter ge­wor­den und ich wie­der von Hau­se ge­reist war, hielt ich mich ei­ne Zeit­lang bei ei­nem Kauf­mann auf, dem ich im La­den und auf dem Kon­tor half. Hier soll­te ich dem Mann zum letz­ten­mal be­geg­nen.
    Ich ge­he ei­nes Abends auf mein Zim­mer hin­auf, zün­de die Lam­pe an und ent­klei­de mich. Ich will wie ge­wöhn­lich mei­ne Schu­he für das Mäd­chen hin­aus­set­zen, ich neh­me die Schu­he in die Hand und öff­ne die Tür.
    Da steht er auf dem Gang, dicht vor mir, der rot­bär­ti­ge Mann.
    Ich weiß, daß Leu­te im Ne­ben­zim­mer sind, da­her bin ich nicht ban­ge. Ich mur­me­le: »Bist du schon wie­der da!« Gleich dar­auf öff­net der Mann sei­nen großen Mund wie­der und fängt an zu la­chen. Dies macht kei­nen er­schre­cken­den Ein­druck mehr auf mich; und dies­mal mer­ke ich: der feh­len­de Zahn ist wie­der da!
    Er war viel­leicht von ir­gend je­mand in die Er­de hin­ein­ge­steckt wor­den. Oder er war in die­sen Jah­ren zer­brö­ckelt, hat­te sich in Staub auf­ge­löst und mit dem üb­ri­gen Staub ver­eint, von dem er ge­trennt ge­we­sen war. Gott al­lein weiß das.
    Der Mann schloß sei­nen Mund wie­der, wäh­rend ich noch in der Tür stand, wand­te sich um, ging die Trep­pe hin­ab und ver­schwand.
    Seit­her ha­be ich ihn nie wie­der ge­se­hen. Und es sind jetzt vie­le Jah­re ver­gan­gen.
    Die­ser Mann, die­ser rot­bär­ti­ge Bo­te aus dem Lan­de des To­des, hat mir durch das un­be­schreib­li­che Grau­en, das er in mein Kin­der­le­ben ge­bracht, sehr viel Scha­den zu­ge­fügt. Ich ha­be mehr als ei­ne Vi­si­on ge­habt, mehr als ei­ne selt­sa­me Be­geg­nung mit dem Un­er­klär­ba­ren – nichts aber hat mich so tief be­wegt wie dies.
    Und doch hat er mir viel­leicht nicht nur Scha­den zu­ge­fügt – die­ser Ge­dan­ke ist mir oft ge­kom­men. Viel­leicht ist er ei­ne der ers­ten Ur­sa­chen ge­we­sen, daß ich ge­lernt ha­be, die Zäh­ne zu­sam­men­zu­bei­ßen und mich zu be­zwin­gen. In mei­nem spä­te­ren Le­ben ha­be ich

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