1801 - Die Herreach
manchmal im Gedächtnis. Was sie aber hörten und vor allem aus welchem Grund, das verstanden die Heuach nie.
So gab es nur einen einzigen Spruch des Berges, der nicht vergessen wurde. Deshalb wahrscheinlich, weil es der letzte Spruch für lange Zeit war - und weil der Berg für eine nicht mehr zählbare Dauer vollständig verstummte.
Eigentlich war es mehr eine Prophezeiung als ein Spruch. Ihr Inhalt schien sich auf eine ferne Zukunft zu beziehen: Kummerog ist der Gott, der hinter den Toren wartet. Die Tore werden sich öffnen, und der Gott Kummerog wird durch die Pforte schreiten.
3.
DER KÖNIGSMÖRDER
Wann ist es soweit? fragt Kummerogs Programm.
Das läßt sich noch nicht absehen, antwortet die Maschine. Noch immer nicht.
Die Beeinflussung muß intensiviert werden, fordert Kummerogs Programm.
Und die Maschine antwortet: Nein. Durch den festgelegten Standort kann nur ein sehr geringer Bruchteil der BioBevölkerung beeinflußt werden. Es darf kein zu starkes Gefälle entstehen.
Kummerog interessiert sich nicht für Gefälle. Kummerog ist ausschließlich an Resultaten interessiert.
Kulturelles Gefälle würde einen Krieg provozieren, argumentiert die Maschine. Und ein Krieg minimiert den zu erwartenden Fortschritt.
Dann mußt du die Bevölkerung auf andere Weise unterstützen, drängt das Programm. Zum Beispiel technologisch.
Die Maschine sagt: Das ist nicht möglich. Wenn jene draußen denselben technologischen Weg gehen, verfallen sie auf dieselben Defizite. Sie sollen etwas vollbringen, wozu wir selbst nicht imstande sind. Dazu ist es notwendig, daß sie eigenständiges Denken entwickeln.
Eine Weile herrscht Schweigen, für viele tausend Jahre. Dann erneut die unhörbare Stimme des Programms: Es gibt noch andere Notwendigkeiten. Die Zahl der Jahrmillionen, die Kummerog warten kann, ist begrenzt.
Geduld ... Die größte Strecke liegt bereits hinter uns. Ich werde zunächst den Kontakt zur Bio-Bevölkerung einstellen. Weiter geht es erst, wenn ein bestimmtes Stadium erreicht ist.
Und das wäre?
10.000.
Ich fordere eine Minderung des Betrags.
5000.
Mindern!
1000.
Kummerogs Programm sagt: Mit 1000 erkläre ich mich einverstanden.
*
„Setz dich, mein Kleiner. - Hierher zu mir, ganz recht, mach es dir nur bequem. Und laß nicht das Nas-Organ hängen, das ist nicht höflich. Hör einfach nur zu."
„Ist es schon soweit?"
„Nein. Nein, erst muß ich dir noch eine Geschichte erzählen."
„Eine gelogene?" fragte Collie.
„Diese hier ist wahr."
„Vater sagt, deine Geschichten sind alle gelogen."
„Aber nicht diese hier", versicherte Gaan ungerührt. „Heute keine Lügen, heute nichts als die Wahrheit."
Der Vater seines Vaters war der erste Herreach, den sich Collie jemals ganz genau ansah. Er wollte das Bild im Kopf behalten, weil es hieß, daß Gaan bald sterben mußte. Gaan hatte seine Zeit erreicht. Jeder Körper funktionierte nur für eine gewisse Spanne, und wenn diese Spanne um war, dann verwandelte sich der Geist in gar nichts und der Körper in Erde. Aber natürlich erst, wenn man schon gestorben war. Bis dahin würde es nicht mehr lange dauern. Gaan hockte sowieso nur noch in seiner Ecke und bewegte sich kaum noch. Das ging jetzt seit vielen Perioden so.
Die Hütte war eine von jener Sorte, in der eine große Wohngruppe Platz fand, in der es immer stank und in der immer irgendwer rumorte. Collie hatte es nie anders kennengelernt. Für ihn war es selbstverständlich, daß der Vater seines Vaters bei ihnen einschlafen und sterben würde.
Gaan hatte einen riesengroßen eiförmigen Schädel, dessen spitzes Ende nach unten zeigte. Dunkelgrün, so funkelten seine Augen auch im Alter, als schräggestellte Schlitze mitten im Gesicht. Die obere Kopfhälfte war ausgebuchtet, weil eine Knochenplatte das Gehirn vor Schlägen schützte. (Und Gaan schlug sich häufig den Kopf an, seine Sehorgane funktionierten nicht mehr richtig.) Collie hatte niemals ein Nas-Organ gesehen, das so fleischig war wie Gaans. Wenn der Alte Interesse signalisieren wollte, plusterte er es auf, bis es so groß wie eine Faust war.
Sein Mund ließ sich kaum noch öffnen, da die Haut ringsherum nicht mehr transparent und dehnbar war, sondern trübe, rissig, ausgelaugt. Die Knochenleisten saßen tief im Rachen. Gaan kaute den ganzen Tag an winzigkleinen Stengelresten herum; praktisch an allem, was noch in den Mund paßte.
Collie stellte sich’s schrecklich vor, wenn man nicht mehr kauen konnte.
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