1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Stunden erhalten hatten, brachten eine allgemeine, obwohl sehr entgegengesetzte Aufregung hervor. Die eine war erfreulich, denn ein vorausgesandter Jäger meldete die Ankunft des Grafen aus Petersburg. Er hatte sich nebst seiner Familie über zwei Jahre im Auslande aufgehalten; währenddessen hatten seine Leibeigenen die zwar strenge, aber, nach den Begriffen dieser Leute, gerechte Verwaltung oft vermißt. Eine allgemeine Freude herrschte daher über seine nahe Rückkehr. Indessen sie wurde sehr gestört durch eine andere Nachricht, welche der Gutsverwalter, der zum Markte in Smolensk gewesen war, von dort mitgebracht hatte. Der Feind, hieß es, war wirklich in das Reich eingefallen, der Krieg hatte begonnen, und schon zogen sich die russischen Heere vor der unwiderstehlichen Siegesgewalt des französischen Kaisers auf allen Punkten zurück. Wie gewöhnlich waren die Gerüchte weit übertrieben worden. Man wollte schon wissen, daß der Fürst Bagration völlig aufs Haupt geschlagen sei; andern Gerüchten zufolge sollte der General Barclay de Tolly mit dem Marschall Davoust bei Grodno zusammengetroffen sein und nach einer blutigen Schlacht den Rückzug angetreten haben. Die größte Bestürzung hatte sich daher der Einwohner bemächtigt, denn, der Entfernung unkundig, glaubten sie das Verderben schon ganz nahe. Die Landleute versammelten sich vor den Toren des Schlosses und verlangten Rat und Auskunft; der Verwalter hatte Mühe, sie zu beruhigen; es gelang ihm nur dadurch, daß er ihnen vorstellte, die Ankunft des Herrn habe gewiß keinen andern Zweck als den, unter diesen gefährlichen Umständen für die Seinigen zu sorgen. Indessen herrschte doch ein banger Schrecken unter den Gemütern, und der hochbetagte Geistliche des Dorfes, Gregorius, mußte die ganze Würde seines Amtes aufbieten, um die Mutlosen aufzurichten. »Fürchtet euch nicht, meine Freunde,« sprach dieser würdige Priester und trat mitten unter sie; »das Volk Ruriks steht unter dem Schutze des himmlischen Vaters, der Mutter Maria und aller Heiligen. Wähnet ihr, sie würden uns verlassen? Wähnet ihr, sie würden die heiligen Altäre einem ruchlosen Feinde preisgeben? Nimmermehr, sage ich euch, werden diese Fremden den alten Stamm der Russen unterjochen! Der heilige Iwan, dessen goldenes Kreuz zu Moskau auf der Kuppel der Kathedrale leuchtet, ist mächtiger als alle die Tausende, welche der fremde Eroberer heranführt. Ich sage euch, der Stern des Verderbens ist es, dem sie folgen; er flammt blutig vor ihnen her und lockt sie zum sichern Untergange! Wie die Scharen Pharaonis in den Wellen des Meeres umkamen, so werden diese Frevler verschmachten in unsern tausendjährigen heiligen Wäldern, an die noch keine Axt gerührt hat. Der heulende Wolf wird an ihren Gebeinen nagen, der krächzende Rabe sich an ihren Leichnamen sättigen; denn mit uns sind die Scharen der Engel und uns schirmet die heilige Mutter Gottes. Darum dürft ihr nicht verzagen, sondern sollt euch waffnen als die Streiter des heiligen Iwan. Von dem Niemen, der das Reich Ruriks im Westen begrenzt, bis zu der prächtig strömenden Wolga, bis zu dem Uralgebirge, das am äußersten Rande Europas aufsteigt, soll der Feind keine sichere Ruhestätte finden. Gastlich ist die Hütte der Russen; aber anzünden soll er sie mit der Flamme des eigenen Herdes, ehe sie dem Feinde ein Obdach bietet, der gekommen ist, die Gräber, unserer Zaren in der heiligen Stadt aufzuwühlen und die Altäre unsers Gottes zu stürzen. Darum sollt ihr nicht flüchten, meine Freunde, sondern kämpfen. Wen die Axt des Mannes nicht niederschlägt, dem möge die vergiftete Mahlzeit, welche die Hausfrau ihm aufträgt, den Tod bringen. Zittert nicht, wehklagt nicht, rauft nicht das greise Haar und den Bart. Ihr werdet leben, um glückliche Tage zu sehen!«
So sprach der begeisterte Priester zu der versammelten Schar der Muschiks, die ihn mit Staunen und Ehrfurcht anhörten; denn schon fünfzig Jahre weilte er unter ihnen als Sorger ihrer Seele, und bereits vierundsiebzigmal hatte er die Frühlingssonne das Eis der Ströme auftauen sehen.
Das Schloß lag auf einer Anhöhe, von der man die Krümmungen des Dnjepr weithin übersehen konnte. Er schlang sich zwischen grünen, steilen Hügeln hindurch, an welchen die Landstraße nach Smolensk hinablief; am Horizont stiegen die Türme dieser Stadt, von der Abendsonne gerötet, empor. Einer der Landleute, der sein scharfes Auge nach der Gegend gerichtet hielt, rief plötzlich:
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