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1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
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»Dort kommt der Herr!«
    Alle wandten die Blicke dahin und brachen in einen lauten Freudenruf aus, als sie drei Wagen auf der Landstraße herankommen sahen. Mit lautem Jubel eilten sie den Hügel hinab, um die Ankommenden zu begrüßen. Es war in der Tat der Graf Dolgorow mit seiner Gattin und seiner Tochter Feodorowna; die beiden Frauen saßen im ersten Wagen; im zweiten befand sich der Graf und neben ihm ein Fremder von kriegerischem Ansehen; im dritten einige Diener. Als die Ankommenden der versammelten Landleute ansichtig wurden, ließ der Graf die Wagen halten und stieg aus. Mit Demut, die Hände über die Brust gekreuzt, grüßten die Vasallen ihren Gebieter und bemühten sich, den Saum seines Kleides zu küssen. Die Weiber drängten sich mit gleicher Demut und Unterwürfigkeit um die Gräfin her. Feodorowna, eine hohe Gestalt, war die einzige, welche diese knechtischen Ehrfurchtsbezeigungen nicht duldete, sondern den Frauen und Mädchen, die sich ihr näherten, freundlich die Hand bot. Der Graf wies nach einigen Minuten die liebende Zudringlichkeit seiner Vasallen nur insofern vornehm zurück, als sie ihm lästig wurde. Indessen sprachen er und seine Gemahlin wohlwollend mit den Leuten und gingen inmitten derselben den Hügel hinan. Auch der Geistliche, dessen Alter seine Schritte verzögerte, hatte sich jetzt genähert, drängte sich durch die Menge und begrüßte den Grafen mit Ehrfurcht, jedoch ohne Unterwürfigkeit.
    »Siehe da, Vater Gregor, seid mir willkommen«, sprach Dolgorow. »Um euch war mir zumeist bange, daß ich euch nicht wiedersehen würde, denn ihr standet bei meiner letzten Anwesenheit schon nahe an der Grenze des Lebens. Ich freue mich, daß die Sonne dieses Frühjahrs euch noch geleuchtet hat.«
    »Meine Kraft ist noch ungeschwächt,« entgegnete der Geistliche; »zwar bin ich jeden Tag des Rufes gewärtig, der mich vor den Thron des Allmächtigen fordert; doch, Dank sei es seiner Gnade, noch vermag ich auf Erden die Pflichten zu erfüllen, die der Herr auf meine Schultern gelegt hat.«
    Indem trat Feodorowna heran: »Heil und Segen auf euer Haupt, mein Vater! Welch eine Freude für mich, daß ich euch in so heiterer Kraft wiedersehe!«
    »Die Mutter Gottes sei mit dir und nehme dich in ihren heiligen Schutz!« sprach der Geistliche und ergriff mit der Linken Feodorownas Hand, während er die Rechte segnend auf ihr sanft gebeugtes Haupt legte. »Du bist wohl behütet gewesen von den Engeln des Herrn, meine Tochter, und schöner erblüht heimgekehrt, als du, noch eine zarte Knospe, von uns schiedest. Die Heiligen haben mein Gebet gesegnet, denn täglich flehte ich sie an, dir ihren Beistand zu leihen.« So sprach der Greis und blickte die schöne Jungfrau, deren Jugend er geleitet, mit milden, freundlichen Augen an.
    »O, gewiß hat es uns schützend begleitet,«, erwiderte Feodorowna mit dem Ausdruck frommer Rührung; »denn Gott war uns stets nahe in Drangsal und Gefahr.« Sie schien mehr sagen zu wollen, doch ein ernster Blick des Vaters, dem die nahe Vertraulichkeit der Tochter zu dem Geistlichen überhaupt unangenehm war, bewirkte, daß sie abbrach und schwieg. Gleich darauf trat der Fremde, ein großer, schön gewachsener Mann in seinen besten Jahren, zu ihr und bot ihr den Arm, um sie den etwas steiler werdenden Weg vollends hinaufzuführen. Der Graf ging inmitten seiner Vasallen und sprach mit den einzelnen, indem er sich nach den häuslichen Umständen derselben sowie nach den Ereignissen erkundigte, welche sich während seiner Abwesenheit zugetragen haben mochten. »Du hast dein Weib verloren, Isaak«, redete er einen schon bejahrten Landmann an.
    »Ja, gnädigster Herr,« erwiderte der Alte, »sie starb im vergangenen Herbst, und mir fehlt seitdem eine Wirtin im Hause.«
    »Dein,ältester Sohn soll heiraten,« erwiderte der Graf; »Wasiliews Tochter ist ein Weib für ihn. Ich werde ihnen in diesen Tagen die Hochzeit ausrichten.« Der Alte dankte mit unterwürfiger Freude für diesen Befehl; denn ein solcher war das ausgesprochene Wort des Grafen.
    Der Verwalter fragte behutsam nach den Kriegsbegebenheiten. »Der Feind rückt gegen unsere Grenze heran,« entgegnete der Graf; »er dringt mit großer Heeresmacht vor; ich bin hauptsächlich deshalb hierher gekommen, um die Anordnungen zu treffen, welche der Krieg nötig macht.« – »Ich hörte heut in Smolensk–« fing der Verwalter mit wichtiger besorgter Miene an. – »Vermutlich dieselben albernen Gerüchte, die auch mich

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