1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
lebenslängliche Dankbarkeit nicht zu vergelten imstande wäre.«
Beaucaire fühlte sich verwirrt; das edle, feste und doch so weiblich sanfte Benehmen Mariens übte selbst auf sein entartetes Herz eine so unwiderstehliche Macht aus, daß er fast den Mut verlor, ihr die empörenden Anträge zu machen, um derentwillen er diese einsame Zusammenkunft mit ihr gesucht hatte. Unwillkürlich hatte sein Gespräch mit ihr, das er durch den Schreck der ersten Drohungen seinem Ziele entgegenzulenken versuchte, eine völlig andere Richtung genommen, und er sah sich jetzt fast abgeschnitten von dem Wege, den er zu gehen gedacht hatte. Doch der Verdruß über sich selbst, daß seine festen Entschlüsse durch wenige Worte eines Mädchens wankend gemacht werden sollten, diese falsche Scham verhärteter Unwürdigkeit trieb ihn an, plötzlich seine Larve wegzuwerfen. »Auf Dank,« sprach er, »hoffe ich allerdings und darf ihn erwarten, da eine schöne Schwester gerade die besten Mittel besitzt, um für einen wichtigen Dienst, den man dem Bruder leistet, die Schuld abzutragen.« Mit diesen Worten ergriff er die rechte Hand Mariens mit seinen beiden und drückte und küßte sie auf eine Weise, die dem erschreckten Mädchen plötzlich einen neuen Blick in den schwarzen Hintergrund seiner Absichten öffnen mußte. Scheu sprang sie auf und rief: »Mein Gott, was wollen Sie?« Beaucaire aber hielt sie fest, wollte sie wieder zu sich herabziehen und sprach: »Nicht so schüchtern, Liebe, das Leben eines Bruders ist doch wohl den Kuß einer Schwester wert!«
»Unwürdiger!« rief Marie, die jetzt den ganzen Umfang seiner Abscheulichkeit überschaute, in überwallender Empörung: »Lassen Sie mich oder ich rufe um Hilfe!«
»Gemach, gemach,« entgegnete Beaucaire, ohne die heftig sich Sträubende loszulassen; »hören Sie mich an. Ihr Bruder ist bei der Armee; morgen gehe ich nach dem Hauptquartier ab. Dort werden zwei Stunden genügen, den Aufent- halt dessen, den ich suche, auszukundschaften, und vierundzwanzig Stunden sind hinreichend bei dem Kriegsgericht, um von der Anklage bis zur Vollstreckung vorzurücken. Ihr Bruder hat den Tod verwirkt, sein Leben ist in meiner und in Ihrer Hand. Wollen Sie –«
»Nimmermehr!« rief Marie, und riß sich gewaltsam von ihm los. »Mein Bruder würde ein Leben verachten, das er so erkaufen müßte! Wagen Sie nicht, mir zu nahen, ein einziger Ruf führt mir Hilfe herbei.« – »Fürchten Sie keine Gewaltsamkeit,« entgegnete Beaucaire mit verbissenem Grimm, »ich bin kein Raubtier, das Sie zerreißen will. Doch rate ich Ihnen jetzt zum letzten Male,« fuhr er hierauf mit schneidender Kälte fort, »verschmähen Sie mein Anerbieten nicht. Hier hinter dem Schloßgarten hält ein Wagen; er bringt Sie an einen sichern Ort. Dort treffe ich Sie in zwei Stunden und händige Ihnen dann Papiere ein, mittels deren Ihr Bruder ungehindert nach England, wo er in völligster Sicherheit ist, gelangen kann. Sie selbst mögen sie ihm auf Ihrem Wege zustellen. Erklären Sie sich jetzt.«
Marie stand im heftigsten Kampfe mit sich selbst da. Plötzlich warf sie sich zu Beaucaires Füßen nieder, umschlang seine Knie mit angstvollem Schluchzen und rief: »Nein, es ist unmöglich! Ich glaube nicht an den Ernst Ihrer furcht- baren Drohungen. Es ist nur ein grausamer Scherz, aber er ist zu grausam. Hören Sie auf, ich flehe Sie an, machen Sie meiner Angst, meinen Tränen ein Ende. Lassen Sie mich nicht länger auf dieser namenlosen Folter. Ich tat Ihnen Unrecht, gewiß schreiendes Unrecht, und Sie strafen mich jetzt dafür. Aber es ist genug, ich habe genug gebüßt! Kehren Sie nun zur Wahrheit zurück! Ach, Sie kennen nicht die Angst einer Schwester, die für das Leben ihres einzigen Bruders, ach, des einzigen, was sie noch auf dieser Erde besitzt, beben muß.«
»Stehen Sie auf, es kommt jemand«, sprach Beaucaire heftig, aber leise. Es war der alte Gartenarbeiter, der, durch das lebhafte Gespräch aufmerksam gemacht, sich näherte. »Nein, nein!« rief Marie, »nicht eher, bis Sie mir schwören –«
»Sie sind wahnsinnig«, entgegnete Beaucaire wild und riß sie gewaltsam empor. »Wollen Sie mir folgen oder nicht? denn die Zeit verstreicht!«
»Nimmermehr!« rief Marie mit zurückkehrender Kraft und Besinnung, indem sie sich groß emporrichtete. »Mein Bruder müßte mich verfluchen und ich mich verachten. Geh denn hin, blutiges Ungeheuer, und übe deine Schandtat aus! Füge auch diesen Greuel zu den namenlosen
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