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1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
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Hingeschiedenen zu besuchen. Marie führte sie dahin. Als sie das Tor fast erreicht hatten, sahen sie in einer Seitenstraße einen Auflauf von Menschen, der die Gasse stopfte. Sie wollten sich eben nach der Ursache erkundigen, als Benno an sie herantrat und ihnen erzählte, man habe einen Beamten der Post wegen eben entdeckter, grober Veruntreuungen an Geldern und Geldbriefen verhaftet, und soeben sei das Gericht beschäftigt, die Wohnung des ins Gefängnis Abgeführten zu durchsuchen, seine Papiere in Beschlag zu nehmen und dann alles zu versiegeln.
    Diese Begebenheit an sich würde nur eine entferntere Teilnahme in Marien erregt haben, wenn sie nicht fürchtend geahnt hätte, daß sie selbst eine schwer Beteiligte bei dieser Treulosigkeit sei. Jetzt war es möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß St.-Luces von allem unterrichtet sei, daß seine Warnung Grund hatte. Aber auch vor ihm war sie gewarnt worden! Wer half ihr diese Rätsel lösen? Wer kannte alle ihre geheimsten Verhältnisse so genau? War sie rings mit Netzen umstellt? Bewacht, belauscht, beobachtet von allen Seiten?
    Indem sie noch diesen beängstigenden und verwirrenden Gedanken nachhing, trat ein hübsches Blumenmädchen, dessen Äußeres jedoch einen leichtfertigen Lebenswandel zu verraten schien, ihr entgegen und bot ihr Sträuße zum Kauf an. Marie wies sie zerstreut ab; das Mädchen erneuerte jedoch ihre Bitte mit dem freundlichen Talent überredender Verkäuferinnen. »Diesen Strauß nehmen Sie mir gewiß ab,« sprach sie; »es sind drei Rosen darin bei so später Jahreszeit.« Zugleich drückte sie ihn Marien fast gewaltsam in die Hand und sprach dabei leise die Worte: »Um Ihres Bruders willen!« Marie erschrak, das Mädchen lächelte und fuhr mit verstellter Unbefangenheit fort zu bitten. »Ja, diesen behalten Sie, der ist der schönste von allen und kostet nur drei Kreuzer!« Marie wollte das Mädchen befragen, doch diese verschloß ihr die Lippen mit einem Wink des Auges und den leise geflüsterten Worten: »Strenges Geheimnis!«
    Indessen hatte Benno sich höflich zeigen und dem Mädchen Sträuße für die Damen abkaufen wollen. Er tat es, die Kleine nahm das Geld mit vergnügter Miene, winkte Marien noch einmal zu, als wolle sie sagen: verrate dich mit keiner Silbe – und schlüpfte dann leichtfüßig hinweg, um auch andern Vorübergehenden ihre duftende Ware anzubieten.
    Marie war so betroffen von dem Ereignis, daß sie zitterte; selbst an der Gruft der Mutter, die man bald erreichte, waren ihre Gedanken nicht bei der Toten, sondern mitten in den Verwirrungen der Welt. Zu ungeübt in den kleinen Kunstgriffen der Liebensintrigen, hatte sie gar nicht daran gedacht, den Strauß näher zu untersuchen; ein zufälliger Blick ließ sie erst ein Streifchen Papier darin wahrnehmen. Mit gespannter Erwartung zog sie es unbemerkt hervor und las darauf die Worte: »Sie können Ihren Bruder retten, wenn Sie diesen Abend mit dem Schlage der neunten Stunde allein in den Schloßgarten an die alte Linde kommen. Er ist verloren, wenn Sie ausbleiben oder eine Silbe verraten. Zum zweiten Male warnt man Sie vor St.-Luces!«
    Wie erstarrt stand sie, nachdem sie diese Zeilen gelesen. Welch ein neues schreckenvolles Geheimnis! Also diese Einladung und die gestrige Warnung kamen von derselben Hand? Immer labyrinthischer verschlangen sich die Pfade ihres Lebens, immer gefahrvoller liefen sie am Abgrunde dahin. Ach, sie fühlte es nur zu tief, ein Sturm hatte sie weit verschlagen von der heiligen Insel der unbefangenen Kindheit. Den sanften Wiesenteppich, auf dem sie bisher zwischen friedlicher Umbuschung, unbemerkt, doch glückselig dahingewandelt war, hatte ein furchtbares Erdbeben erschüttert und verschlungen. An seiner Stelle wogte der unbegrenzte, heimatlose Ozean und trieb sie auf seinen Wellen an gefährlichen Klippen dahin. Sollte sie das Geheimnis entdecken? Sollte sie sich denen, die sie liebten, anvertrauen, sich in ihren Schutz stellen? Aber vermochten diese den Bruder zu retten, wenn boshafte Tücke ihn verderben wollte? »Nein, ich will es wagen; es ist meine heilige Pflicht, es zu wagen,« dachte sie entschlossen; »endlich müssen diese Rätsel sich lösen. Und wer sagt mir denn, daß ich einem neuen Unheil entgegengehe? Könnte es nicht ein großmütiger Freund sein, den ich, wenn ich das Schweigen bräche, ins Verderben stürzte? Du, meine Mutter, blickst aus jenen seligen Höhen in mein angsterfülltes Herz, dein Schutzgeist wird mich schirmend

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