1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
hatte ihr bei meinem priesterlichm Eide gelobt, es dir erst dann zu entdecken, wenn deine Vermählung vollzogen sei. Es ist geschehen, jetzt darf ich meine Lippen öffnen. Du bist nicht die Tochter Dolgorows, keine Eingeborene dieses Landes; Deutschland ist dein Geburtsland, aber deine Eltern sind längst dahingegangen. Graf Dolgorow nahm dich an Kindes Statt an, weil seine Gemahlin ihm keine Hoffnung gab, Vater zu werden. Dies sind die Bildnisse deiner Eltern, die mir Ruschka übergeben.« Mit diesen Worten übergab er Feodorowna einen Brief und ein geöffnetes Taschenbuch mit zwei Bildnissen, eine junge Frau und einen Offizier darstellend.
Mit starren, staunenden Blicken, bebend, fast regungslos stand Feodorowna vor Gregor und versuchte vergeblich zu sprechen; halb bewußtlos nahm sie, was ihr Gregor darreichte, und legte es auf den Tisch vor ihrem Sessel. Endlich brachte sie, indem sie die gefalteten Hände krampfhaft gegen die Brust drückte, wie mit einem Schrei der Angst die Worte hervor: »Nicht ihre Tochter! Und dennoch – o allmächtiger Gott!« – »Fasse dich, meine Tochter,« erwiderte Gregor sanft, »wende dein Herz fromm zu Gott, der die Geschicke der Menschen wunderbar leitet. Ich habe dir das Wichtigste, das Notwendigste entdeckt. Lies diese Papiere durch, und du wirst das übrige erfahren. Ich verlasse dich jetzt! Laß erst den gewaltigen Sturm sich beruhigen, der jetzt alle Wogen in deiner Brust emporschwellt. Wenn du allein bist, wirst du dich selbst wiederfinden. Bedarfst du dann meiner, so sende zu mir.« Mit diesen Worten verließ der Greis das Gemach; Feodorowna vermochte ihm nichts zu erwidern, mühsam schwankte sie einem Sessel zu und stützte das schwere, von dem unerwarteten Schlag betäubte Haupt in beide Hände. Es dauerte lange, ehe sie die Papiere, die ihr das Geheimnis ihres Lebens enthüllen sollten, zu entfalten vermochte. Die Bildnisse ihrer Eltern lagen vor ihr; sie sah mit unverwandten Blicken darauf hin, doch die strömenden Tränen verdunkelten ihr Auge. Endlich löste sie die fünf Siegel des an sie gerichteten Briefes und las, was Ruschka mit eigener, vor Alter zitternder Hand geschrieben.
»Mein teuerstes Kind! Solange ich lebe, band ein strenger, fürchterlich erpreßter Eid meine Zunge; bin ich dahin, so soll noch aus meinem Grabe meine Stimme erschallen, um Dir die Geheimnisse zu entdecken, die Deine Jugend umschwebt haben. Du bist nicht die Tochter Dolgorows, noch der Gräfin. Wenige Tage warst Du alt, als sie Dich in Deutschland nach dem Tode Deiner Mutter an Kindes Statt annahmen. Der Graf war damals schon vier Jahre vermählt; er hatte die Hoffnung, Vater zu werden, aufgegeben. Die Leere einer kinderlosen Ehe, noch mehr aber die Lust, fremde Länder kennen zu lernen, hatte ihn bewogen, große Reisen zu unternehmen. Im Mai des Jahres 1793 befand er sich zu Pyrmont; hier lernte er Deine Mutter kennen, die als Witwe mit ihrem fünfjährigen braunlockigen Knaben, namens Benno – Du warst noch nicht geboren –, dahin gekommen war, um ihre zerrüttete Gesundheit herzustellen. Sie hieß Luise Waldheim; ihr Gatte war Offizier gewesen und in einem Duell erschossen worden. Dadurch plötzlich in eine mehr als beschränkte Lage geraten, kränkelnd der Geburt eines zweiten Kindes entgegensehend, schön, sanft, erregte sie trotz ihrer tiefen Zurückgezogenheit doch bald die Aufmerksamkeit einiger reichern Badegäste. Die Gräfin Dolgorow, welche das mittlere Stockwerk des Hauses gemietet hatte, in dem Deine Mutter ein kleines Zimmerchen bewohnte, machte ihr den Antrag, als Gesellschafterin zu ihr zu ziehen und dabei zugleich die Pflicht zu übernehmen, den Grafen und sie selbst in der deutschen Sprache zu unterrichten, welche beide damals aufs gründlichste zu lernen sich bemühten. Deine Mutter nahm den Antrag, der sie ihrer dringenden Not entriß, an; drei Monate später, als wir Pyrmont schon verlassen hatten und auf einer Reise nach der Schweiz und Italien begriffen waren, wurdest Du geboren. In einem einzeln stehenden Wirtshause unweit Freiburg, mitten im Schwarzwalde, hast Du das Licht der Welt erblickt. Der Graf wollte anfangs, als die Niederkunft Deiner Mutter herannahte, sie den redlichen Leuten daselbst übergeben, mich zurücklassen und die Reise mit der Gräfin allein fortsetzen, bis wir ihm nachfolgen könnten. Doch ein leichtes Unwohlsein der Gräfin selbst bestimmte ihn, unsere Einsamkeit zu teilen, bis Deine Mutter völlig genesen sei. Allein es geschah nicht;
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