1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
am elften Tage nach Deiner Geburt starb sie. Ich war ihre Pflegerin in den letzten Stunden ihres Lebens; sterbend empfahl sie mir die Sorge für ihre Kinder und übergab mir ihr ganzes kleines Vermächtnis für Euch. Darunter war ihr eigener und ihres Gatten Trauring. Gleich nach der Bestattung bemerkte ich, daß der Graf mit einem wichtigen Plane umgehen mußte. Er schloß sich mehrmals mit der Gräfin ein und hatte lange, oft sehr heftige Unterredungen mit ihr, und häufig sprach er, wenn ich zugegen war, englisch, welches ich nicht verstand; nur bemerkte ich, daß Du der Gegenstand des Gesprächs sein mußtest, weil beide Dich oft mit seltsamer Aufmerksamkeit betrachteten. Einige Tage darauf verabschiedete der Graf die beiden deutschen Bedienten, die er bei sich hatte, unter dem Vorwande, daß er in Italien sich Eingeborene zu Dienern wählen wollte, gab ihnen Reisegeld und ließ sie in ihre Heimat zurückkehren. Endlich rief er mich eines Morgens zu sich und erklärte mir; er habe die Absicht, Dich als seine Tochter anzunehmen. Natürlich war ich sehr erfreut darüber, denn das Schicksal der beiden Kinder hatte mich sehr beunruhigt; allein meine Freude wurde zur tiefsten Betrübnis, als er mir erklärte, für den Bruder werde er auf andere Weise sorgen, da es durchaus verschwiegen bleiben müßte, daß die Gräfin nicht die rechte Mutter des Kindes sei. «So sollen die Geschwister getrennt werden?» rief ich erschrocken und erstaunt aus. «Es wird kein Unglütk für diejenigen sein, die einander niemals gekannt haben», entgegnete der Graf streng. Ich schwieg bestürzt. Er aber fuhr fort: «Du bist die einzige, die um das Geheimnis weiß; aber ich fordere von dir, daß du einen Eid auf die geweihte Hostie schwörst, es niemals zu entdecken. Weigerst du dich, so erinnere dich, daß du und deine Brüder Leibeigene sind und daß ich mit einem Worte euch wieder in den tiefsten Stand der Unterwürfigkeit zurückschleudern kann.» Diese Drohung war fürchterlich Meine Brüder waren durch die Gunst des alten Grafen, des Vaters Deines Pflegevaters, zu wohlhabenden Kaufleuten in Moskau geworden. Aber der Stolz der russischen Großen, reiche Leibeigene zu besitzen, war Ursache,daß er ihnen, so wohl er ihnen sonst wollte, dennoch ihre Freibriefe nicht gegeben hatte. Ich wußte, welch ein schreckliches Los ihrer und meiner harrte, wenn ich den Eid verweigerte. Da überdies des Grafen Entschluß Dein Glück entschied da ich bedachte, daß Du an einem Bruder, den Du niemals gekannt, nichts verlieren könntest, endlich da er mir auf mein Bitten versprach, für den Knaben großmütige Sorge zu tragen, so,entschloß ich mich, seinem Willen nachzugeben Doch jetzt in der Stunde meines herannahenden Todes, wo ich Dich, mein liebstes Kind, fern von mir weiß, jetzt erst befällt es mich mit schwerer Gewissensangst, daß ich Dein treu liebendes Herz mit einer ewigen Lüge verwirren soll. Ich weiß, welche Ursachen den Grafen bestimmten, Dich für seine Tochter zu erklären. Die Gräfin konnte einen bedeutenden Teil ihrer Güter nur dann erben, wenn sie Mutter war. Es war nicht Liebe, es war Eigennutz, der beide diesen Plan entwerfen ließ. Erst vor zwei Jahren, kurz vor seiner Abreise nach England, ist ihr diese Erbschaft zugefallen, die nur eben hinreichte, des Grafen, durch Hang zu einem seine Kräfte übersteigenden Aufwand zerrüttetes Vermögen herzustellen. Jetzt denkt er, durch Dich, deren Schönheit und Engelgüte jedes Herz gewinnen müßte, einen reichen Eidam zu gewinnen. Du bist in dem Stande der Vornehmen, der Reichen erzogen, Du hast die Vorteile einer freien Geburt gewonnen! O Liebe, sie sind unermeßlich! Erfährst Du das Geheimnis Deiner Geburt zu früh, so kannst Du sie verlieren Darum soll es Dir erst mitgeteilt werden, wenn Dir, als Gattin eines freien Russen, für ewig die Rechte Deines Standes gesichert sind. Dem frommen Vater Gregor habe ich gebeichtet, was meine Seele drückte; ich vertraue es diesem Papier an, damit er es in der Sakristei aufbewahre, es vernichte, wenn Du unvermählt dahinstirbst, und es Dir übergebe, wenn niemand Dir das, was Du mit dem Verluste eines Brüders gewonnen, entreißen kann.«
Feodorowna mußte das Blatt aus der Hand legen, da ihre Tränen sie hinderten weiterzulesen. Doch trieb eine hastige Ungeduld, mehr und vor allem das Schicksal ihres Bruders zu erfahren, sie bald wieder aus ihrer Ermattung auf.
»Nachdem ich den Eid geleistet, den Dolgorow von mir gefordert, verließ
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