1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Ehrfurcht, und was in der Krankheit so stark hervorgetreten war, ließ jetzt wenigstens noch deutliche Spuren zurück; es ergriff sie fast ein unheimlicher Schauer, wenn sie sich in der Gegenwart derjenigen befand, bei der ihre wunde Brust Trost und Linderung hätte suchen sollen.
Ochalskoi und Dolgorow waren bei der Armee; doch in den ersten Tagen des August schrieb dieser, er werde binnen kurzem auf das Gut kommen, um die Vermählung Feodorownas mit dem Fürsten zu begehen, zu der nunmehr alles Notwendige vorbereitet war. Die Hindernisse, die bis dahin obwalteten, hatten besonders in den Familienverhältnissen Ochalskois gelegen, der einem alten Familienvertrage zufolge der Bewilligung einiger Verwandten bedurfte, bevor er sich verheiraten konnte. Da das Interesse derselben zum Teil im Spiele war, indem sie aus eigennützigen Absichten eine Verbindung des Fürsten mit einer nähern Verwandtin gewünscht hätten, so hatte es einige Mühe gekostet, ihre Einsprüche zu beseitigen, und war nicht ohne Aufopferungen von seiten Ochalskois möglich gewesen. Jetzt war ihm ein dreitägiger Urlaub bewilligt, um seine Verbindung zu schließen, worauf seine junge Gattin sogleich mit ihrer Mutter über Kaluga nach seinen Gütern in Asien abreisen sollte, damit sie ganz aus den unruhigen Gegenden des Kriegsschauplatzes entfernt würde. Es war dies gerade der Augenblick, in dem die große russische Armee sich aufs schleunigste nach Smolensk geworfen hatte, um nicht von dem französischen Kaiser umgangen zu werden. In der Nacht nach dem schon zum Teil angetretenen Rückzug derselben aus der Festung nach Moskau trafen Dolgorow und Ochalskoi auf dem Schlosse ein. Auf den folgenden Mittag war die Trauung durch Gregor angesetzt; die Feier der Brautnacht sollte nach Dolgorows Willen noch im Schlosse begangen werden. Am nächsten Morgen aber wollten alsdann die Männer wieder auf ihren Posten zum Heere abgehen, während die Frauen über Jelnia und Kaluga ihre Reise nach Ochalskois Gütern antreten sollten.
So war denn also der schreckensvolle Augenblick gekommen, wo Feodorowna den finstern Kerker sich öffnen sah, in dem sie ihr Leben verseufzen sollte. Selbst der schöne Trost, daß sie mit diesem Opfer ein fremdes Glück gegründet habe, wurde machtlos bei der nahenden Wirklichkeit. Tränen hatte die Arme nicht mehr zu vergießen; nur mit einem kalten Grauen blickte sie in die Zukunft. Alles vereinte sich, um den Tag zu einem fürchterlichen für sie zu machen. In der Ferne der dumpfe Donner des Geschützes aus der belagerten Festung; wenn sie in das Fenster ihres Gemaches trat, noch immer lange wilde Züge von Reiterscharen, welche als die letzten Teile der zurückziehenden großen Armee, über die Felder neben der eine halbe Stunde von dem Schlosse vorüberführenden breiten Landstraße nach Moskau verbreitet, dahinzogen. Der Anblick dieser Horden von Tataren, Baschkiren und Kosaken, die aus fern von der europäischen Kultur entlegenen Landschaften stammten; wo sie ihren künftigen Wohnsitz aufschlagen sollte, erfüllte sie mit einem düstern Grauen. »O warum habe ich schönere Länder, sanftere Sitten, edler gebildete Menschen kennen gelernt!« seufzte sie bang auf. »Glücklich war ich auch dort nicht; nur kurze schöne Träume webten sich gleich einem schnell verschwindenden Farbenbogen auf den dunkeln Hintergrund meines Lebens! Aber ich träumte einst holdselig! Und nun! Du sanft schimmernder Leitstern auf meinem dunkeln Pfade, der du so schnell wieder in der tiefen Finsternis verschwandest, du freundlich edle Gestalt, die mir einst eine so treue Hand gereicht, du Freund in bitterer Not, dem mein Herz ewig gehören wird – o zürne nicht über den Verrat, den ich jetzt an dir übe! Du bist der Lenker meines Lebens, sprach eine mächtige Ahnung, ein Gebot heiliger Dankbarkeit und Liebe in meinem Herzen; dir, rief ein hehres Wort göttlicher Bestimmung mir zu, dir ist mein Dasein geweiht! – Und doch war es eine Täuschung! Die Hand der Vorsehung, der ich vertraute, zerriß das Band; ein wilder Sturm verwehte die Bilder des schönen Traums, die Decke spurloser Nacht und Vergessenheit hüllt alles ein!« Jetzt flossen wieder sanfte Tränen aus Feodorownas Auge, weil sie der Tage gedachte, wo die holde Blume erster, einziger Liebe schüchtern die Knospe in ihrem jungfräulichen Herzen entfaltete. Ach, sie wurde grausam gebrochen, ehe sie erblühen konnte!
In gramvolles Sinnen verloren stand die unglückselige Braut am Fenster
Weitere Kostenlose Bücher