1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
ich sein Gemach. Der kleine fünfjährige Knabe, Dein Bruder, sprang mir fröhlich, aber leise entgegen und zeigte mit seinem Fingerchen auf die Wiege, um mir bemerklich zu machen, wie Du so ruhig schlummertest. Jetzt gedachte ich der beiden Ringe. Eine dunkle Ahnung, von der ich mir selbst nicht Rechenschaft zu geben wußte, trieb mich an, dem Knaben wenigstens dies eine Andenken zu sichern. Ich nahm schnell sein Sonntagskleidchen und nähte den einen Ring im Gürtel desselben fest. Wohl mir, daß ich es getan; denn wenige Minuten nachher trat der Graf ein und hieß mich den Knaben ankleiden, weil er mit ihm ausfahren wolle. Ein bedeutsamer Blick sagte mir, was er vorhabe. Ich vollzog den Befehl unter Tränen. Der Knabe begriff nicht, weshalb ich weinte, sondern freute sich nur auf die Spazierfahrt. Seine Ungeduld, ja sein Ungestüm – denn er war ebenso wild und heftig als gutherzig – konnte den Augenblick, wo er mit dem Grafen einsteigen sollte, gar nicht erwarten. «Mich drückt hier etwas», rief er unwillig, als ich ihm das Kleidchen zuknöpfte, und griff nach dem eingenähten Ringe. Besorgt, daß er selbst auf diese Art verraten könne, was ich getan, schnitt ich schnell mit der Schere eine eingenähte Falte in dem Röschen auf, damit die Spannung nachließe. Hätte der Graf mein Geheimnis entdeckt, es würde mir übel gegangen sein. Doch ich konnte es nicht unterlassen. Zu meinem Erstaunen sah ich, daß der Reisewagen des Grafen mit Postpferden bespannt wurde. Einige Minuten später stieg er mit dem Kinde ein, und ich habe es seitdem niemals wiedergesehen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, denn am nächsten Morgen fuhr ich, mit der Gräfin und Dir, dem, wie es hieß, vorangereisten Grafen nach. Nach drei Tagen trafen wir ihn erst in Köln wieder. Er schwieg, ich wagte nicht zu fragen. Von dort gingen wir nach Holland und dann nach England, weil die Zeitereignisse es gefährlich machten, nach Italien zu reisen. Nach drei Jahren erst kehrten wir nach Rußland zurück, und Du galtest nun für die Gräfin Feodorowna Dolgorow und wurdest als solche erzogen. Der Ring, den ich Dir, teuerstes Kind, bei meiner Abreise gab und Dich so dringend bat, ihn ja nicht zu verlieren, sondern stets zu meinem Andenken zu tragen, ist der Trauring Deiner Mutter. Durch ihn kannst Du dereinst vielleicht Deinen Bruder wiederfinden. Mehr weiß ich Dir nicht zu entdecken. Ich beschwöre Dich aber, bewahre diese Geheimnisse treu und entdecke sie auch nicht Deinen Pflegeeltern, denn ich fürchte sie nehmen Rache an meinen noch lebenden Brüdern. Niemand als Du und der fromme Vater Gregor wissen darum, und ihm bindet das heilige Geheimnis der Beichte auf ewig die Lippen.
»Nun lebe wohl, mein holdes Kind. Vergib mir, was ich an Dir verbrochen, um der Liebe willen, die ich für Dich gehabt. Möge es Dir so glücklich auf dieser Erde ergehen, wie Du gut und schön bist, dann wirst Du nicht so viel Tränen vergießen, wirst nicht so viel angst- und kummervolle Nächte zubringen, als ich in meinem Leben verseufzt habe. Deine alte, treue, siebzigjährige Pflegerin
Ruschka.«
Zweites Kapitel.
Feodorowna war in der äußersten Wallung. Sie wußte in ihrer Beängstigung keinen Entschluß zu fassen. Bald wollte sie Gregor rufen, bald zu ihren Pflegeeltern hinabstürzen, bald ihrem Gatten alles entdecken. Mit tränendunkeln Augen betrachtete sie die Bildnisse ihrer Eltern. »O wie hold sind die Züge meiner Mutter, wie edel, feurig, männlich die meines Vaters!« Der Anblick der geliebten, ungekannten Toten drang, mit sanfter Rührung in ihre Seele. »O, ihr würdet euere Tochter wärmer geliebt haben!« seufzte sie bebend; »jetzt weiß ich, warum ich geopfert wurde!« Lange stand sie unschlüssig, von Schmerz und Bangigkeit der Seele bewegt. Endlich schellte sie Jeannetten und hieß sie Gregor rufen. Er hatte im Vorsaal gewartet, »O mein Vater, mein Retter, was hab' ich zu tun?« rief sie ihm entgegen und rang die Hände; »was soll ich Unglückliche nun beginnen?« Da fühlte sie Ruschkas Ring an ihrem Finger. »Dies ist das einzige Zeichen,« sprach sie, »an dem ich meinen Bruder wiedererkennen kann. Ach, und ich war jüngst nahe daran, es unwiederbringlich zu verlieren! Doch Gott wachte über mir! Es geschah – o vergebt, ich wollte bei einer müßigen Erzählung verweilen, jetzt, wo die Sekunden unschätzbar sind. Was ratet ihr mir, mein Vater? Was soll ich tun? Ich bin nicht mehr des Grafen Dolgorow Tochter, ich bin ihm
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