Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
Vom Netzwerk:
geheiligten Sitz der Zaren, vor sich in der Talsenkung ausgebreitet sahen. Es war zwei Uhr mittags. Eine glänzende Herbstsonne brach eben durch leichtes Gewölk, welches in dem lichtblauen Raum des Himmels schwebte. In tausendfältigem Farbenspiel funkelten die zahllosen Kuppeln der Kirchen und Paläste, die, in Gold und schimmerndem Grün strahlend, die Stadt hoch überragen. Aus dem Wald der Türme stieg der Kreml wie ein gekröntes Haupt empor; die Moskwa schlang das silberne Band durch die Gefilde. Scharen flatternder Tauben wiegten sich mit leuchtenden Flügeln im Sonnenstrahl hoch über den Dächern und umkreisten die Turmspitzen.
    Ein unwillkürlicher Ausruf der Freude und der Ehrfurcht zugleich entstieg der Brust bei diesem überraschenden Anblick. »Moskau! Moskau!« ertönte der Ruf der Krieger, die sich kaum überreden konnten, daß das unendlich ferne, wunderbar in das Geheimnis der Sagen und Märchen gehüllte, mit zahllosen Mühen und Gefahren erstrebte Ziel nun wirklich erreicht sein sollte. Ein goldener Preis des Siegers, eine strahlende Krone des Ruhms, lag die Hauptstadt vor den Augen der Kühnen, die es gewagt hatten, von den schönen wirtbaren Ufern der Ströme Frankreichs und Deutschlands mitten durch die Wüsteneien vorzudringen, hinter denen sich diese Reichtümer verschanzen, die an die Märchen des Morgenlandes erinnern. Freudenruf und Siegesjubel erfüllten die Luft. Die Vordern rufen und winken ihren Kameraden. Der unter den Mühseligkeiten des Marsches fast erliegende Krieger fühlt sich plötzlich mit neuer Kraft durchdrungen, jede Erinnerung an seine Leiden, Sorgen, Gefahren ist verschwunden. Einem Strome gleich, der sich plötzlich eine neue Bahn gebrochen, und nun im raschern Laufe dahinschießt, flutet die Menge in stets wachsender Beschleunigung die Höhe hinan, daß die mächtig vordringende Woge den Gipfel überschwillt. Je dichter die schwarzen Heeresmassen sich auf der Anhöhe sammeln, je lauter tönt der jubelnde Ruf und dringt durch die stillen Lüfte gen Himmel.
    »Also das ist die berühmte, an Sagen und Wundern reiche Stadt der Zaren«, rief Bernhard, als er oben sein Roß anhielt. »So haben wir sie denn endlich doch aufgefunden hinter den endlosen Wäldern und Steppen, die sie beschützend umgürten!« – »Es war Zeit,« sprach Rasinski und tat einen Blick rückwärts auf das Heer; »hohe Zeit!«
    Ludwig betrachtete die reiche, unermeßlich ausgedehnte Stadt gleichfalls mit jenem ehrfurchtsvollen, die Brust erweiternden und hebenden Staunen, womit uns der Anblick eines Ortes oder eines Menschen erfüllt, dessen Ruhm lange von fernher zu uns gedrungen ist, den wir schon in den Tagen unserer Kindheit als ein Wunderbild in der Seele trugen, das aus unerreichbar weiten Räumen und Zeiten zu uns herüberschimmerte. »Ein kolossales Gemälde,« rief Bernhard lebhaft; »daß man so etwas nicht malen kann! Seht nur die Massen von Licht und Glanz auf den Kuppeln dort; dann das verworrene Gemisch der Dächer und niedern Häuser, der grünen Streifen und Flecken der Gärten, die sich als Geäder und eingesprengte Massen durch das Gestein ziehen; die Silberblicke, mit denen der Strom durch die Landschaft blitzt; und wenn wir uns umsehen, dieses ungeheuere Heer, das, einer schwarzen Flut gleich, durch die Felder wogt. Seht nur wie die Bajonette im Sonnenlicht blitzen, die Federbüsche leuchten und das Erz der Kanonen schimmert, die drüben in der langen Kolonne am Wald herunterziehen. Hier und dort verliert sich der Blick ins Unendliche; denn die letzten Türme der Stadt verschwinden schon im blauen Duft und Nebel, und der lang nachgeschleppte Schweif von Wagen und Nachzüglern des Heeres verliert sich in unabsehbaren Räumen.«
    Während dieses Gesprächs war man langsam die Höhe hinuntergeritten. Einige Zeit hatte eine bunte Verwirrung geherrscht, wie sie stets bei außerordentlichen Ereignissen auf dem Marsche zu entstehen pflegt; doch jetzt wurden die Leute wieder geordnet, mußten in ihre Züge eintreten und sich dem strengen Gesetz des Marsches vor dem Feinde unterwerfen. Denn man durfte allerdings auf einen ernsten Widerstand gefaßt sein, bevor man das Kleinod des Reiches, das Palladium der russischen Krone, in seine Gewalt bekam, das wie ein glänzender Diamant vor den Augen des Heeres leuchtete.
    So rückte man der Stadt näher und näher, jeden Augenblick gefaßt darauf, einem entschlossenen Feinde zu begegnen. Plötzlich hielt man an; das Gerücht lief von Reihe zu

Weitere Kostenlose Bücher