1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
hatte. Ihr Gespräch dauerte jedoch nur drei Minuten, worauf Regnard seinen Weg fortsetzte. Mit gefurchter Stirn kehrte Rasinski zu den Seinigen zurück; er schien eben mitteilen zu wollen, was ihm der Oberst vertraut hatte, als die Kolonne sich wieder in Bewegung setzte und, wie es immer nach einer Stockung geschieht, desto eiliger nachrücken mußte. Bald erreichte man die Moskwa; die Brücke war so schlecht hergestellt, daß man es vorzog, durch den sehr seichten Fluß zu reiten. Bernhard bemerkte, daß Rasinski mit immer gespannterer Aufmerksamkeit die Häuser und Gassen betrachtete, je näher man der eigentlichen Stadt rückte. Endlich kam man an die Ringmauer, welche dieselbe umschließt.
»Hier werden die Gassen doch breiter und die Häuser ansehnlicher,« sprach Bernhard, »in der Perspektive hat man sogar mehrere Gebäude, die Palästen gleichen. Nun werden wir doch auch wohl die Bewohner derselben kennen lernen.«
»Das eben, fürchte ich,« sprach Rasinski, sich umwendend, leise, aber mit sehr besorglicher Betonung, »werden wir nicht. Nach Regnards Berichten soll die ganze Stadt verlassen und so öde wie der große Kirchhof sein, an dem wir beim Einmarsch vorbeikamen.« Diese Worte, nur zu den Nächsten seiner Umgebung gesprochen, erfüllten dieselben mit einem kalten Schrecken. »Wie? Unmöglich!« rief Jaromir; »das deutete also auf erneuten Krieg, auf den entschlossensten Widerstand, selbst nachdem wir in das Herz des Reiches eingedrungen sind?«
»So ist allerdings zu fürchten! Jetzt treffen Ahnungen ein, die mir schon beim Betreten Altrußlands düster vorschwebten. Nicht den Kaiser Alexander und seine Heere werden wir mehr zu fürchten haben, nicht mit ihnen werden wir kämpfen, sondern ein ganzes, unermeßliches Volk ist es, das gegen uns mit der glühenden Wut aufsteht, die der Fanatismus in der Brust des Menschen entzündet. Tief versunken in mystischen Aberglauben, in unterwürfige Demut gegen ihre Götter wie gegen ihre Herrscher, wird es unmöglich werden, sie irgendeiner Überredung, einer vernünftigen Überzeugung zugänglich zu machen, die sie belehren kann, daß wir nicht gekommen sind, um ihre Altäre zu vernichten, ihre Kirchen zu plündern, ihre Städte zu verbrennen. Hier wird kein Krieg mehr zwischen zweien Mächten geführt werden, wo die Entscheidung auf dem Wahlplatze oder im Rate der Minister fällt, sondern ein ganzes Geschlecht waffnet sich gegen uns, das uns verflucht wie den Abschaum der Hölle. Der einzelne ist der Feind des einzelnen; der Haß entstammt sich in der Brust des Knaben und des Weibes. Da gibt es keinen edeln, großmütigen Kampf der Gedanken, der Ehre, des Ruhmes mehr, sondern alles artet aus in ein gräßliches Morden, Schlachten und Würgen, wo Sieg und Niederlagen gleich entsetzlich sind.«
Ein düsteres Feuer leuchtete aus seinen Augen, während er sprach; er hatte die hohe Stirn in finstere Falten gerunzelt und ein tiefer Schmerz umzog seine Lippen. Bernhard betrachtete ihn mit unverwandten Augen. Über der Schönheit, der erhabenen Würde seines männlichen Antlitzes vergaß er einen Augenblick, weshalb diese Gewitterwolken in so ernster Majestät darüber hinzogen. Wahrlich, dachte er bei sich selbst, der Mensch ist am schönsten, wenn ein edler Gram aus der Tiefe des Herzens herauf durch die leichten Hüllen des Auges und des Angesichts schimmert. Darum bildeten die Alten ihre Heroen so tief ernst; darum selbst in ihren Götterbildern der erhabene Anflug eines leisen Grams, der die Züge so veredelt und verklärt.
Doch der schnelle Wechsel der Gegenstände und der Betrachtungen, die sie erzeugten, duldete kein langes Verweilen der Gedanken auf einer Stelle; zumal da, wo sie so fern aus dem Kreise der nächsten, mächtigen Wirklichkeit lagen. Die Straßen, durch welche man zog, machten einen seltsamen Eindruck; sie waren belebt durch das Getümmel des Kriegs, und doch zugleich totenstill, weil die Häuser an beiden Seiten wie stumme Gräber standen, aus denen keine Spur, kein Hauch des Lebens heraufwehte. Nicht einmal der Rauch eines Schornsteins war zu entdecken. Die Kuppeln der Kathedralen glänzten in strahlendem Gold, von grünen Kränzen umzogen; die Säulen der Paläste stiegen prachtvoll empor. Doch schien der Schmuck dieser edeln Architektur der einer stattlich herausgekleideten, zur letzten öffentlichen Schau ausgestellten Leiche zu sein, so starr, so stumm blieb alles. Diese Mischung der üppigsten Pracht des Lebens mit der stillen,
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