1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Gefängnisses geöffnet.
Ludwig führte die Geliebte über den Schneehügel hinaus ins Freie. Mit stillem Entzücken begrüßten beide das holde Licht des Tages wieder. Aus der finstern Gruft traten sie in eine romantische Gegend, die man hätte reizend nennen können, wenn der Winter nicht noch hier oben Herr gewesen wäre. Vor ihnen öffnete sich zwar ein tiefes, stilles Tal; aber die Umgegend war mit schlanken Fichten grün bewachsen, und unten ganz in der Ferne und Tiefe sah man das freundliche Städtchen Brieg, von dem silbernen Bande der Rhone umschlungen, und dort grünte die Flur schon im reizenden Schmuck des Frühlings. Die Luft war nicht warm, aber doch milde, und die Sonne glänzte hell an einigen Schneegipfeln. Freilich das laue duftige Wehen der italienischen Frühlingslüfte, von denen man gestern geschieden war, traf man nicht mehr an, sondern nur ein tauender Februartag herrschte auf dieser Höhe. Daher sprach Bianka lächelnd: »Wir sind seit gestern um einige Monate jünger geworden; unten atmeten wir Mailuft, hier begrüßen uns höchstens die ersten Tage des März.«
»Sie waren mir von jeher die liebsten,« antwortete Ludwig lebhaft; »stets hat mich der Frühling am tiefsten bewegt, wenn sein Hauch nur eben die ersten Eisspitzen des Winters schmilzt, wenn wir ihn mehr ahnen als wirklich empfinden. Die Sonne, welche uns die ersten tropfenden Bäume im Garten bringt, die ersten Halme, die aus dem Schnee emporsprießen, galten mir als Knabe schon mehr als eine ganze Maienflur.«
Von Biankas Lippen ertönte, indem sie das schöne Haupt freundlich zuwinkend neigte, ein leiser Ton, wie das Summen der Bienen. »Es ist wahr,« sprach sie sinnend, »es sind die ersten Tage der Genesung nach langer düsterer Krankheit. Die Frische der Gesundheit ist noch nicht zurückgekehrt, aber man empfindet die Wohltat der geringen Gabe stärker!«
»Gewiß,« erwiderte Ludwig, »sie erfreuen uns, wie den Dürftigen das kleinste Geschenk, mehr, als in der Fülle des Glücks ein großer Gewinn.«
Paul unterbrach das Gespräch, indem er den Vorschlag machte, daß die Herrschaft zu Fuß voran bis zu dem nächsten, nur eine halbe Stunde entfernten Posthause gehen und dort warten möchte, bis der Wagen nachkomme. Ludwig fand dies sehr zweckmäßig, weil die Frauen der Erfrischung bedurften: er reichte Bianka den Arm und machte sich mit ihr und Margareten auf den Weg. Paul und der Postillon wollten, während die Landleute den Schnee vollends weggrüben, den Wagen, so gut als es einstweilen möglich war, herstellen.
Das Posthaus war nach einer kleinen halben Stunde erreicht. Es lag schon soviel tiefer, daß man dort keinen Schnee mehr fand. Auch war der Waldwuchs schon hoch, wiewohl bis jetzt nichts daselbst grünte als Moos und Tannen. Das wohlgebaute, reinlich geordnete Haus, eben hinreichend, um die Wohnung einer Familie zu bilden und ein oder zwei Zimmer für Reisende zu enthalten, gewährte ein eigenes Bild der Befriedigung und Ruhe. Mitten in der Wildnis hingestellt, einsam, hoch über andere Menschenwohnungen erhaben, in der Nachbarschaft einer oft furchtbaren Natur, war es doch so sichtlich ein heimischer, trauter Zufluchtsort für das harmlose Glück geringer Bedürfnisse, daß man die Bewohner desselben beneiden konnte. Welche Sorgen sollten sie hier treffen? Welche quälende Begierde ihr Glück untergraben? Ein geordneter Hausstand, ein bestimmtes Geschäft, kein Nebenbuhler, kein Feind, kein friedestörender Nachbar, genug Verkehr mit Menschen, um nicht abzusterben, nicht so viel, um von dem Wechsel der Schicksale in der bewegten Welt mitgetroffen zu werden – gewiß, dies sind die natürlichen, gesunden Verhältnisse eines wahrhaften Glücks, und nur ein selbstfeindlicher Sinn vermag sie zu stören. Aber leider ist der Trieb, der sich blind und wahnsinnig gegen das eigene Wohl richtet, nur zu häufig und zu mächtig in der Brust des Menschen. Daher wird keiner seinem Unsterne entfliehen, der ihn auf diese Weise selbst mit sich trägt; aber auch keinen wird ein feindliches Geschick finden, der in ruhiger, zufriedener Brust sich selbst das Glück gründet.
»Mamma, Mamma«, rief, als Ludwig und Bianka sich näherten, ein kleines Mädchen, das vor der Tür des Hauses saß, und klatschte vergnügt in die Händchen. »Mamma mia! Un signore, una, signora!« Die Mutter, eine schwarzlockige Italienerin, eilte herbei, nahm das Kind auf den Arm und ging den Fremden entgegen. »Die Herrschaften haben ein Unglück
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