1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
erbleichenden Sterne und der Schimmer des frisch gefallenen, tiefen Schnees gewährten einiges Licht. Durch wüste, halbverfallene Gassen, in denen Biwakfeuer brannten, an welchen schwarze Reihen von schlummernden oder vielleicht schon erstarrten Kriegern gelagert waren, erreichte man die Brücke des Dnjepr, marschierte dann durch die Oberstadt und gelangte so endlich an die Stadtmauer. Ein beschneiter Hügelvorsprung, wenige hundert Schritte davon, auf dem sich eine schwarze, von düstern Tannen gebildete Waldspitze verlief, war zur Vollstreckung des Urteils ausersehen. Ein Offizier harrte daselbst mit einem Kommando von zwanzig Leuten. Der Tag fing bereits an so hell zu dämmern, daß man schon ziemlich weit um sich blicken konnte.
»Halt! Gewehr ab!« kommandierte der Sergeant, als er mit seinen Gefangenen die Höhe erreicht hatte.
»Also hier wäre das Ziel unserer Laufbahn«, sprach Ludwig und deutete auf einen Pfahl im Schnee, an dem er den Tod empfangen sollte. »Das hat meine Ahnung mir nicht gesagt, als wir vor vier Monaten hier vorüberzogen!« Bernhard schien über irgend etwas zu brüten und zu sinnen; denn er antwortete nicht, obwohl Ludwig jetzt wieder neben ihm stand. »Gib auf mich acht,« raunte er ihm nach einigen Augenblicken leise zu, »wir können vielleicht noch entkommen. Erreichen wir die Waldspitze hier, so sind wir geborgen, und an jenen drei hohen Fichten auf dem Hügel dort hinten wollen wir uns dann wieder treffen.«
Jetzt zitterte Ludwig. Sein Herz schlug heftig; er blickte nach dem Hügel hinüber und sah in blauer Dämmerung die drei Fichten stehen. Der Punkt war nicht zu verfehlen, in einer halben Stunde konnte er erreicht sein. Also aufs neue winkte ihm die Rettung. Bernhard zeigte sie ihm möglich, nahe, wahrscheinlich. Mit grausamer Gewalt riß ihn die Hoffnung wieder aus dem Gefängnis des Todes in das helle Licht des Lebens zurück. Gebrochen war jetzt die Kraft seiner festen Entsagung; alle lebendigen Triebe und Pulse des Lebens wachten wieder auf und schlugen mächtig in seiner Brust. Wenn ihm jetzt die Flucht mißlang, das fühlte er, dann wurde der Tod ihm schwer.
Kaum hatten diese Gedanken die Wogen seiner Brust stürmisch aufgejagt, als Bernhard den günstigen Augenblick ersah und plötzlich mit gewaltiger Kraft die beiden nächsten Soldaten neben ihm durch einen unvermuteten Stoß ins Genick vorwärts auf den Boden in den Schnee stürzte, mit einem Satz aus ihrer Mitte war und unter dem Ruf: »Mir nach, Bruder!« schnell wie ein Reh der Waldecke zuflüchtete. Er hatte so für sich und Ludwig die Bahn gebrochen; dieser, auf den Wink gespannt, sprang von der andern Seite hinweg und flüchtete ebenfalls über das beschneite Feld. Die Soldaten standen bestürzt. »Feuer nach!« rief der Offizier, und einige schossen. Aber zugleich waren andere schon in vollem Laufe den Fliehenden nachgestürzt und hinderten so die übrigen, ihre Gewehre abzuschießen, da sie ebensogut ihre Kameraden als die Entsprungenen treffen konnten. Alle warfen daher die Gewehre in den Schnee, um leichter zu sein, und liefen den Fliehenden nach. Ludwig suchte sich nahe an Bernhard zu halten, um sein Geschick nicht von dem des treuen Freundes zu trennen. Doch der Schwarm der Verfolgenden, der sich zwischen sie warf, zwang sie bald, verschiedene Richtungen zu nehmen. Flucht und Verfolgung wurden gleich beschwerlich, denn als man von dem steilen Gipfel des Hügels, wo der Wind den Schnee verweht hatte, weiter gegen den Wald hin gelangte, wo der Sturm ihn nicht so fassen konnte, sank der Fuß bei jedem Schritt tief ein. Schon sah Ludwig die schwarzen Tannengebüsche dicht vor sich, die ihm Rettung bringen sollten, schon wähnte er dem ungerechten Schicksal entgangen zu sein, als er plötzlich bis an den Leib und bei der nächsten Bewegung bis an die Brust in den Schnee sank, der, in der Erdspalte zusammengeweht, dieselbe mit seiner trügerischen Hülle nur leicht bedeckte. Er arbeitete mit aller Kraft der Muskeln, sich zu retten – doch vergeblich. In wenigen Sekunden hatten seine Verfolger ihn erreicht, packten ihn unbarmherzig mit nervigen Händen an und zerrten ihn an Armen und Haar empor.
Ach wie viele, die in diese kalten Gräber, in diese lauernden Fallgruben des schauerlichen Todes sanken, flehten vergeblich um eine rettende Hand! Ihn riß der Ingrimm wilder Schadenfreude aus dem geöffneten Schlunde des Todes zurück, um ihn dem noch gewissern Verderben selbst zu überliefern! Er bebte vor Frost
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