1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
sehen; eine ziemliche Strecke verfolgte er den Pfad, un- geduldig, sich immer von Hecken oder Zäunen begleitet zu sehen. Jetzt endlich erreichte er das Freie, befand sich aber so tief in der Ebene, auf Wiesengrund, daß er sich durchaus nicht zu orientieren vermochte. Auf gutes Glück ging er quer über die Triften hin nach der Richtung zu, die er nehmen mußte. Es war nun bereits eine halbe Stunde verflossen, seit Bianka das Haus verlassen hatte, deshalb wurde ihm jede Minute kostbar, weil er die Teuere nicht der ängstlichen Erwartung überlassen und durch langes Ausbleiben einer drohenden Gefahr preisgeben wollte. Er beschleunigte daher seine Schritte und erreichte endlich fast atemlos einen Pfad, welcher auf eine kleine Anhöhe zuleitete, von der aus er die Rhone sehen mußte. Endlich hatte er die Höhe erreicht. Zu seinem Schrecken aber sah er sich viel weiter von dem Flusse entfernt, als er beim Ausgehen gewesen war; ja, es schien ihm, als tue er jetzt fast am besten, den Weg gerade wieder zurückzumachen. Denn die Rhone schlug gleich oberhalb Brieg einen so starken, fast rückwärts gekrümmten Bogen, daß Ludwig, der hier seiner Richtung den ursprünglichen Lauf des Flusses und Tales zum Grunde gelegt hatte, jetzt die Stelle des Ufers, die etwa eine halbe Stunde von der Stadt entfernt liegen konnte, und wo Bianka verabredetermaßen warten sollte, weit hinter sich sah. Nahm er also den Weg in nächster Richtung nach dem Flusse zu, so traf er weit über den Ort der Zusammenkunft hinaus; wählte er die Richtung so, daß er vor dem Punkte ans Ufer gelangte, wo Bianka mutmaßlich wartete, so mußte er fast eine ebenso weite Strecke wieder rückwärts machen, als er schon von der Stadt entfernt war, und eine volle Stunde Zeit war rein verloren. Es schien ihm daher endlich am geratensten, gerade auf den Strom zuzugehen und dem Laufe desselben abwärts zu folgen, wo er dann von der entgegengesetzten Seite auf die Wartenden stoßen mußte. Er eilte, was seine Kräfte vermochten. Doch verging, da häufig Erdspalten, kleine Vertiefungen, auch sumpfige Stellen ihn zu Umwegen nötigten, eine volle halbe Stunde, und er hatte das Ufer noch immer nicht erreicht. Schon war die Sonne hinter die hohe Wand der Alpenkette hinabgesunken, und das tiefe Tal von Brieg lag bereits in bläulichem Abendschatten. Jetzt hörte er die Rhone rauschen; noch eine felsige, mit Brombeersträuchern überwachsene, ziemlich steile Anhöhe, welche den Fluß gleich einem Damm zu begleiten schien, mußte er überklimmen, dann hoffte er den Uferpfad erreicht zu haben. Er stieg angestrengt aufwärts; die Höhe war steiler und bedeutender, als er sie anfangs geschätzt hatte; die lang verschlungenen Rankenzweige der Brombeerbüsche legten sich wie Schlingen über den Boden und zerritzten ihm durch den Stiefel hindurch den Fuß mit ihren scharfen Dornen. Endlich hatte er das Hindernis mit blutenden Händen und Füßen überwunden und sah sich auf der Höhe. Er schritt rasch über den Kamm derselben hin, um jenseit hinabzusteigen. Plötzlich aber mußte er innehalten, denn er stand an einem Absturze, und unter sich hörte er die Rhone dahinbrausen, doch so, daß er sie nicht einmal sah, weil der Felsen weit über die Strömung hinüberhing. Es blieb ihm daher nichts übrig, als umzuwenden und die Richtung der Höhe stromabwärts zu verfolgen. Zu seiner großen Beunruhigung entdeckte er keinen betretenen Pfad, befand sich also noch nicht auf der Bahn, wo er der Geliebten begegnen mußte. Indes blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dem Kamm des steilen Ufers entlang zu gehen. Es bedeckte sich jetzt mit dichtem Kieferngebüsch; dies beunruhigte ihn zu Anfang ebenfalls, weil ihm der Blick in die Ferne ge- raubt wurde. Doch zu seinem Trost bemerkte er, daß nach und nach der Boden betretener wurde und unerwartet in einen viel benutzten Pfad überging. Dies mußte durchaus der Weg sein, den Paul bezeichnet hatte. Ludwig verfolgte ihn daher mit angestrengtester Eile. Darüber vergaß er, auf das Brausen des Stroms zu achten, und erst nachdem er eine starke Viertelstunde vorwärts ge- gangen war, bemerkte er die tiefe Stille ringsumher, die ihn fürchten ließ, daß er sich wiederum weiter von dem Ufer entfernt haben müsfe. Zum Glück lichtete sich jedoch das Gebüsch, deshalb eilte er nur um so hastiger vorwärts, weil er, sobald er nur das Freie erreicht hätte, gewiß zu sein glaubte, Bianka sehr bald aufzufinden. Kaum aber gestatteten die niedrigen
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