1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Büsche einen Blick in die Ferne, als er zu seinem größten Schrecken sich wieder weitab von der Rhone sah und zwischen seinem Wege und dem Strom eine breite Strecke ebenen Landes entdeckte. Der täuschende Fluß wich hier abermals durch eine weite Krümmung von der Bahn ab. Ohne Bedenken schlug sich daher Ludwig, fast außer sich vor innerm Unmut und Sorge, zur Rechten und eilte querfeldein dem Rhoneufer zu. Atemlos erreichte er es nach zehn Minuten und stieß auch sogleich auf einen betretenen Pfad, der der Krümmung des Flusses von der Stadt her zu folgen und auch weiter hinauf am Rande desselben hinzuleiten schien. Er sah nach der Uhr. Volle zwei Stunden war er jetzt auf dem Wege und doch nicht weiter als eine gute halbe Stunde von der Stadt entfernt. Einzelne Gruppen von Brombeer und Holundergebüschen fanden sich von Zeit zu Zeit am Ufer; sie waren zweifelsohne bequeme Punkte für die Frauen gewesen, um die nachfolgenden Männer zu erwarten. Aber ob sie jetzt, da schon die Dämmerung hereinbrach, noch harren würden? Ob sie den Punkt, um Ludwig zu erwarten, an dem Orte, wo er sich jetzt befand, oder vielleicht dicht hinter ihm gewählt hatten? Das waren zwei Fragen, die ihn mit banger Ungewißheit quälten. Indes zauderte er nicht, sich zu entscheiden. Er wollte wieder so weit zurückeilen, bis er gewiß sein durfte, daß der Punkt des Zusammentreffens nicht mehr zwischen ihm und der Stadt liege. Dann konnte er wenigstens mit Sicherheit seinen Weg vorwärts richten. So schnell es ihm daher irgend möglich war, ging er der Stadt zu; in jedem nächsten Busch hoffte er die Teuere zu entdecken; immer täuschte er sich. Jetzt sah er etwas Weißes schimmern; sie mußte es sein! Vergebene Hoffnung, es war ein Stück Linnen, das zum Bleichen am Abhang eines Rasenhügels ausgespannt zwischen den kaum belaubten Büschen hindurchschimmerte. Nunmehr war er der Stadt so nahe, daß Bianka unmöglich schon hier angehalten haben konnte. Da bewegten sich, wie er in der grauenden Dämmerung unterschied, zwei Gestalten im nächsten, etwa hundert Schritte entfernten Gebüsch. Sein Herz schlug freudig empor; er eilte näher. Es waren Frauen, sie trugen hohe Reisehüte, er sah ein weißes Tuch schimmern. O Himmel, sie ist es, jauchzte sein Herz aus tiefster Hoffnungslosigkeit wieder in seliger Freude auf. Als er ihnen näher gekommen war, sah er, daß sie im Gespräch vertieft, den Blick aufwärts nach den mit Schnee bedeckten Bergspitzen gerichtet hatten, die, da die Sonne schon versunken war, kalt, leichenähnlich, gleich blassen Gespenstern in den dunkelnden Horizont emporragten. Paul war nicht bei den Frauen, überdies ihre Haltung durchaus gleichgültig und ruhig; das machte Ludwig sehr zweifelhaft. Jetzt wandten sie sich, durch sein hastiges Heranschreiten aufmerksam gemacht, um. O Himmel, er sah, daß er sich völlig getäuscht hatte!
Wie niedergeschmettert stand er da; kaum vermochte er sich so weit zu fassen, daß er sie anredete und fragte, ob sie nicht zwei Damen in Begleitung eines Dieners gesehen hätten. Die eine verneinte es, die andere erinnerte jedoch daran, daß sie vor einer Stunde bei ihrem Spaziergange im Tal weiter aufwärts in der Ferne zwei Damen in Begleitung eines Mannes gesehen hätten, die ihren Weg der Rhone entgegen nahmen. Ludwig dankte hastig für die Nachricht, und glücklich, nun wenigstens ein Zeichen gefunden zu haben und zu wissen, wohin er sich wenden müsse, stürzte er wieder zurück, dem Lauf des schäumenden Stromes entgegen. Die Angst der Eile gab ihm Flügel. Bald hatte er die Stelle wieder erreicht, von wo er ausgegangen war; er verfolgte jetzt den Uferpfad rastlos weiter. Doch nun war es in diesem tiefen, von beiden Seiten durch die hohe Alpenmauer eingeschlossenen Tale bereits völlig dunkel und unter einer Stunde keine Hoffnung da, daß das Mondlicht dem Wanderer zu Hilfe kommen werde. Schauerliche Einsamkeit umgab ihn; die Gegend wurde bald rauh und wild. Die Bergmassen türmten sich immer schroffer und kolossaler empor; die Zinnen der Schneehörner glänzten hoch über den dunkeln Felsmauern. Reißend schoß die Rhone neben ihm dahin und krönte ihre schwarzen Wellen mit zischendem Schaum. Jetzt wurde das Ufer durchaus steil und bald darauf hing der Fels sogar drohend weit herüber. Ludwig erkannte, daß er hier an der Stelle sei, wo er vor länger als einer Stunde auf der Höhe stand; der Pfad schmiegte sich unter dem gewölbten Felsen hindurch. Vielleicht war Bianka eben in dem
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