1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
fürchtet sie sich zu verraten; die großen seidenen Vorhänge bedecken die Fenster so, daß sie gar nicht bemerkt werden kann. Sie beschließt daher, sich nicht zu regen und sich schlafend zu stellen. Doch beobachtet sie alles, was Dolgorow vornimmt. Endlich geht er, nachdem er zuvor beide abgeschlossen gewesenen Türen leise wieder geöffnet hat. Dieser Umstand muß das Mädchen davon überzeugen, daß hier etwas Geheimnisvolles gegen die Fürstin, deren traurig gespanntes Verhältnis zu den Eltern sie ja längst kennt, unternommen worden ist. Sie verbindet die Umstände mit dem, was sie belauscht, was sie Jacques vertraut hat; sie besorgt, durch ihre Unvorsichtigkeit die so aufrichtig von ihr geliebte Gebieterin gefährdet zu haben, ihr Gewissen läßt ihr keine Ruhe, sie muß derselben gestehen, was sie zu wissen glaubt, und was sie gesehen hat. Mit diesem Vorsatz, durch die treueste Aufrichtigkeit womöglich ihren Fehler gutzumachen, will sie zu der Fürstin eilen, als diese selbst unvermutet eintritt. Jeannette erzählt, was geschehen ist. Bianka ahnt den Zusammenhang, sie sieht ein, daß sie völlig verraten ist, daß sie keine Zeit verlieren darf. Sogleich beschließt sie, mit ihrem Bruder zu sprechen. Jeannette muß das Zimmer schließen und erhält den Auftrag, sobald sich jemand an der Tür vernehmen lasse, zu antworten, die Fürstin sei im Umkleiden begriffen, es könne jetzt niemand eintreten. Währenddessen eilt Bianka, durch dieselbe Kopfbedeckung Jeannettens, die sie ihr gestern während des Schlummers heimlich entwendet hatte, vor dem Erkennen geschützt, durch das Halbdunkel des Korridors begünstigt, auf Bernhards und Ludwigs Zimmer und erzählt diesen, was geschehen ist. Flucht noch in derselben Nacht wird beschlossen; Gregor wird die Hilflosen aufnehmen, wenn es gelingt, seine Wohnung zu erreichen, bevor er den Weg zu dem Schlosse angetreten hat, oder wenn der Zufall es so glücklich fügt, daß man ihm begegnet. Schlägt diese Hoffnung fehl, so bleibt Smolensk, das noch von den Franzosen besetzt ist, als Zufluchtsort übrig.
Willhofen soll der Begleiter auf der Flucht sein. Er wird von allem unterrichtet und verspricht Pferde und einen Schlitten bereitzuhalten. Um das Nötige dazu vorzubereiten, hat er eben das Zimmer verlassen, als ihm Jacques begegnet und ihn zum Grafen ruft. Mit einer Ahnung dessen, was geschehen soll, tritt er zu diesem ein, doch bewahrt er seine völlige Ruhe und gewohnte Haltung. Ohne Verdacht übergibt ihm Dolgorow den Brief, den Willhofen aber sogleich in Bernhards Zimmer hinüberträgt, wo Bianka noch verweilt. Man öffnet ihn; Bianka liest den russisch geschriebenen Befehl; Dolgorows Absicht ist unzweifelhaft. Bernhard ahnt seinen Plan, wenngleich nicht in seiner vollen Abscheulichkeit, da der Edle nie so tief in die Seele des Frevlers eindringt, um seine Entwürfe in ihrem ganzen Umfange zu übersehen.
Jetzt drängt der Augenblick, es ist keine Zeit mehr zu verlieren; die Flucht muß noch in dieser Stunde geschehen. Während Willhofen hinuntereilt, um unter dem Vorwande, sein Pferd zu satteln, die Rosse an den Schlitten zu spannen, versieht sich Bianka auf ihrem Zimmer mit dem Notwendigsten. Sie kann jetzt nicht umhin, Jeannetten zur Mitwisserin zu machen; diese will nicht von der Gebieterin weichen, sondern fleht mit Tränen, ihr Schicksal teilen zu dürfen. Bianka muß einwilligen, sie mitzunehmen, um so mehr, als von Dolgorows Zorn alles für das Mädchen zu fürchten ist, wenn er nur eine Ahnung hat, daß sie sein Geheimnis verraten haben könnte. Diese packt daher in größter Eile Kleidungsstücke und was sonst unentbehrlich scheint, zusammen, während die Gebieterin sich mit Geld versieht und ihre Juwelen, Papiere, Briefe und Andenken in ein Kästchen sammelt. Bernhard und Ludwig haben sich indessen auf Willhofens Anweisung mit Pistolen, die den bewaffneten Bedienten zugehören, versehen. Ludwig geht hinunter in den Hof, um, sobald Willhofen sich zu Pferde setzt, diesem mit dem Schlitten zu folgen. Bernhard eilt zu der Schwester hinüber, um diese hinabzuführen. Ein Zeichen, welches er von ihrem Fenster aus gibt, zeigt denen im Hofe an, daß die Frauen bereit sind.
In angstvoller Spannung stand Ludwig im Hof und hielt die Blicke unverwandt auf Biankas Fenster gerichtet. Die dringende Gefahr des Verzugs, die an einem Haar hängende Möglichkeit, verraten zu werden, der Sturz in das tiefste Elend, der dann auf die schönen Träume einer namenlosen Seligkeit
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