1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Dolgorow plötzlich den unwidersprechlichsten Beweis für den Grund seines Argwohns in der Hand. Er überraschte ihn, da er fast schon davon zurückgekommen war, so mächtig, daß er, der unter den schwierigsten und gefährlichsten Umständen besonnen und kalt blieb, auf einen Augenblick die Fassung verlor und sich eine heftige Bewegung und einen halberstickten Laut des Erstaunens entschlüpfen ließ. Doch ebenso schnell, wie er die Ruhe verloren hatte, gewann er sie auch wieder, indem er zum Schein den Ausruf wiederholte und heftig auf den Boden stampfte, aber die Miene annahm, als seien es die Nachrichten, die er durch die Briefe empfing, welche ihn bewegten. »Es ist unerhört! unverzeihlich!« rief er aus und drückte den Brief ingrimmig zusammen; »man möchte rasend werden über solch ein Verfahren!« Sogar Bernhard ließ sich durch diese Maske täuschen und ahnte nicht, daß das Geheimnis in diesem Augenblicke enthüllt und verraten war. Geschickt auf die Stimmung des Grafen eingehend, sprach er halb fragend, halb teilnehmend: »Sie erhalten so unangenehme Nachrichten, Herr Graf?«
Dieselbe Frage tat die Gräfin, wiewohl mit größerer Bestimmtheit. »Was kann es sein,« erwiderte Dolgorow, »als neue Ursachen zu den alten Klagen. Durchaus verkehrtes Verfahren, unsinnige Änderungen, widersprechende Bestimmungen, stimmungen, die alles kreuzen und lähmen, was man mit eigener Kraft aus Liebe zum Vaterlande unternimmt! – Verzeihen Sie, aber ich muß einige Zeit allein sein, um den Unwillen in mir austoben zu lassen.« Mit diesen Worten verbeugte er sich und ging auf sein Zimmer, während zugleich die Damen die ihrigen aufsuchten. Bianka nahm indes mit den tröstenden, freundlich gesprochenen Worten Abschied: »Ich hoffe, wir sehen uns beim Tee wieder.«
Kaum war Dolgorow auf seinem Zimmer angelangt, als er dem Kammerdiener schellte, um ihn nochmals über alles das genau zu befragen, worauf er seine Vermutungen gegründet habe. Jacques, der längst merkte, wie wichtig die Angelegenheit dem Grafen sei, verschwieg, teils um das Verdienst der Entdeckung mit niemand zu teilen, teils um sich Jeannettens Gunst zu erhalten, nicht nur, was diese ihm gesagt, sondern daß sie ihm überhaupt das Wichtigste vertraut hatte. Daher waren dem Grafen seine Aussagen völlig ungenügend. Er hieß ihn gehen und blieb sinnend in seinem Zimmer, indem er sich quälte, ein Mittel ausfindig zu machen, um die Wahrheit zu entdecken. Plötzlich leuchtete es ihm hell auf. »Tor!« rief er, »wie kannst du so stumpfsinnig sein und nicht gleich darauf verfallen! Entweder er oder sie müssen irgend Briefe, Dokumente, oder sonst Erkennungszeichen hier haben, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, daß sie einander aufgefunden hätten! Das muß mir Licht geben. Zuerst wollen wir das Leichtere versuchen und Feodorownas Zimmer in der Stille untersuchen.« Er schellte. Jacques trat ein. »Ist die Fürstin auf ihrem Zimmer?« – »Nein, Ihre Durchlaucht arbeiten bei der gnädigen Gräfin.« – »Es ist gut! – Ihr könnt gehen.« ;
Sowie der Kammerdiener fort war, zündete Dolgorow eine kleine Blendlaterne an, nahm sie unter den Mantel und eilte auf Biankas Zimmer. Es gelang ihm, unbemerkt einzutreten. Sogleich schloß er die Türen nach beiden Seiten ab und begann die Untersuchung. Er hatte einige Hauptschlüssel zu sich gesteckt, denen so leicht kein Schloß widerstand, und die er von seinem gefährlichen diplomatischen Verhältnis her besaß, wo er die Papiere seiner Untergebenen stets insgeheim aufs sorgfältigste bewachte, um sich ihrer Treue zu versichern. Mit Hilfe dieser Werkzeuge gelang es ihm bald, Biankas verschlossenen Schreibtisch zu öffnen. Nach kurzem Suchen fand er unter ihren Briefen den von Ruschka an sie obenauf liegen, da sie ihn erst vorgestern wieder zurückgelegt hatte. Dieser hob alle Zweifel; und da er vollends das Portefeuille entdeckte und öffnete, in dem die Porträts beider Eltern sich befanden, deren Ähnlichkeit mit den Kindern nicht zu verkennen war, so bedurfte es weiter nicht der mindesten Erklärung oder Nachforschung, um zu wissen, daß Bernhard der aufgefundene Bruder sei. Sorgfältig legte er alles an seinen Ort, schloß die Tür wieder auf und eilte auf sein Zimmer zurück.
Jetzt beschäftigten ihn die Entwürfe, wie er das keimende Unheil am besten zu ersticken vermöge. Sein Plan war bald gefaßt. Er mußte Feodorownas Lippe ebenso versiegeln wie Ruschkas durch Drohungen gegen das, was ihr das
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