1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Die hinter ihm Wartenden fluchten und tobten und drangen darauf, das Fuhrwerk, welches alle andern aufhalte, zurückzulassen. Man würde daneben hingefahren sein, allein schon hatte man die mindest steilen Punkte des Weges aufgesucht, und somit würde jeder Versuch, die Höhe an einer andern Stelle hinaufzufahren, ungleich schwieriger gewesen sein. So mühten und quälten sich denn zwei elende Pferde vergeblich, den glatten Abhang hinanzuklimmen; menschliche Hand konnte auch nicht helfen, da nur kraftlose Kranke und Verwundete sich auf dem Wagen befanden und selbst die Führer zu diesen gehörten. Endlich stürzten beide Rosse auf der halben Höhe des Hügels erschöpft zusammen, und da sie den Wagen nicht mehr halten konnten, rollte dieser zurück und schleifte die Pferde mit hinab. Ein Schrei der Angst und des Schreckens ertönte sowohl von denen, die sich auf dem Wagen befanden, als von denen, auf die er hinabzurollen drohte. Doch waren nur die erstern in Gefahr, denn er gleitete seitwärts, kam mit einem Rade in ein tiefes Gleis, stieß mit dem andern gegen einen Eisblock und schlug krachend um.
Schon hatte die eigene Not und das Bedürfnis der Rettung das menschliche Gefühl so abgestumpft, daß die übrigen mehr Freude darüber, das Hindernis ihres Fortkommens aus dem Wege geräumt zu sehen, als Teilnahme für das Schicksal ihrer Kameraden und der hilflosen Frauen, die auf dem zerbrochenen Wagen gesessen hatten, empfanden. Diese aber hatten sich schnell emporgerafft, und da sie ihr Fuhrwerk unbrauchbar sahen, eilten sie, ihr Gepäck in den Armen, nach den nächsten Wagen, um sich auf diese zu schwingen. Doch sie wurden meist gewaltsam zurückgewiesen, da wirklich kaum die Möglichkeit vorhanden war, die Fuhrwerke noch mehr zu belasten.
Als Boleslaw verwundete Krieger mit Erbitterung abweisen und hilflose Frauen mit Peitschenhieben zurückgetrieben sah, schnitt ihm der Jammer durch das Herz. Er erhob sich und rief: »Freunde, laßt euere Kameraden nicht im Stich!« »Alter,« rief er einem graubärtigen, schwerverwundeten Grenadier zu, »komm hierher, wir wollen dich aufnehmen, und dagegen mag einer von uns abwechselnd zu Fuß gehen. Ich will der erste sein, der es versucht.« Damit streckte er dem Krieger die Arme entgegen und half ihm, während er selbst abstieg, auf den Wagen.
Dies Beispiel wirkte; man entschloß sich, auf jeden Wagen einen Verwundeten aufzunehmen. Doch waren nicht soviel Wagen als Hilfsbedürftige da, und eine junge, in Pelz dicht eingehüllte Frau mit einem etwa dreijährigen Kinde auf dem Arme, anscheinend die Gattin eines Offiziers, wurde überall zurückgewiesen, während ihre beiden Begleiterinnen schon Platz gefunden hatten. Soll die Mutter ihres Kindes wegen in dieser Einöde verschmachten? dachte Boleslaw und ein Grauen überlief ihn. Doch noch kälter packte ihn der Schauder an, als er jetzt die Unglückselige das Kind plötzlich in den Schnee schleudern und, von der Last befreit, allein nach den nächsten Wagen vor ihm zustürzen sah. »So nehmt mich denn allein auf,« rief sie mit durchdringendem Ton der Angst; »so rettet ihr wenigstens ein Leben!«
Diese unnatürliche Tat einer Mutter aber erfüllte selbst die an jedes Elend und Grausen des Kriegs gewöhnten Männer mit einem schaudernden Gefühl. Boleslaw sprang auf das weinende Kind, das in den tiefen Schnee fast versunken war, zu und hob es empor. Doch wie durchzuckte es seine innerste Brust, als er in dem kleinen Wesen Alisettens Pflegling und in der im jammervollen Wahnsinn um Rettung Flehenden diese selbst erkannte. »Allmächtiger Gott,« rief er entsetzt aus; »das ist deine waltende Vergeltung!«
Durch die Tat der Unglückseligen war das Gefühl des Erbarmens und des Mitleids in den Kriegern völlig erloschen. An ihre Stelle trat die rohe Freude, einen empörenden Frevel sogleich rächen zu können. »Bringt uns das Kind, das arme Kind, das wollen wir retten«, rief ein Chasseur von dem Wagen herab, auf den Alisette vergeblich zu klimmen suchte, indem er zugleich mit hartem Faustschlage die Unglückliche zurücktrieb. Boleslaw folgte dem Zuruf, fast ohne zu wissen, was er tat. Der Chasseur streckte ihm die Hände entgegen, er reichte das kleine Wesen hinauf, und der wild aussehende bärtige Krieger nahm es in seinen Arm und herzte und küßte es freundlich. Alisette war indessen in wahnsinniger Angst auf den nächsten Wagen zugestürzt und versuchte dort das Mitleid durch Händeringen und Weinen rege zu machen.
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