1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
geben.«
Er erzählte hierauf den Vorfall, von dem er diesen Morgen Zeuge geworden war, und der ihm jetzt erst, da er erfahren hatte, daß Alisette wirklich die Mutter des schuldlosen kleinen Wesens war, das Innerste mit Schauder über diese an Wahnsinn streifende Entartung der Natur erfüllte. Nur die Betäubung, in die das furchtbare, entsetzliche Elend ringsumher ein Gemüt stürzen mußte, das niemals gewohnt war, sich an etwas Höheres, als dieses irdische Dasein bietet, zu wenden, gab ihm eine halbe Erklärung und Entschuldigung des Verbrechens. »Die Unnatürliche!« rief Regnard empört, als er die Tat vernahm. »Wo ist aber das Kind, ist es gerettet? Sagen Sie mir alles.«
»Es wird wenige Schritte von hier wohl schon des süßesten Schlummers genießen,« sprach Boleslaw; »ich will Sie dahin führen.« Er ging mit ihm zu dem Biwak, wo der verwundete Chasseur, der mit der kranken Witwe eines Tambours die Sorge um das Kind teilte, gelagert war. Mit Ehrfurcht stand der alte Soldat auf, als sich Regnard ihm näherte. »Kamerad,« sprach dieser heftig bewegt, »ich bin dir mehr als mein Leben schuldig geworden, denn du hast mein Kind gerettet.« – »So viel hätte die Mutter nicht dafür gegeben!« antwortete der Chasseur. »Aber nun ist es gut aufgehoben, mein Oberst! Seht nur her, dort liegt es und schläft wie eine kleine Prinzessin.«
Es war eine Art von Korb, warm in Heu und Moos gepackt und mit einem leichten Tuche überdeckt. Die Witwe des bei Wiazma gebliebenen Tambours saß daneben und behütete es. Regnard betrachtete es gerührt. Er küßte es leicht auf die Stirn, nahm sich aber in acht, es zu erwecken. Dann wandte er sich zu der Frau und dem Chasseur: »Freunde, wenn Gott uns nach Frankreich zurückführt, will ich euch vergelten, wie ich vermag. Jetzt bin ich arm und bloß wie ihr, denn ich komme aus russischer Gefangenschaft. Aber haltet euch zu mir; wir wollen Leid und Freude und Sorge um das kleine Engelchen teilen. Für den Augenblick aber vermag ich euch nichts zu bieten als diesen Handschlag zum Dank!«
»Wahrhaftig, das ist auch das Beste, mein Oberst«, rief der Chasseur, indem er kräftig einschlug. »So eine Hand, auf die man sich verlassen kann, ist jetzt mehr als ein Haufen Gold. Gelt, ihr zieht mich doch aus dem Schnee, wenn ich irgendwo steckenbleibe? Ich habe in den letzten Tagen manchen gekannt, der wohl noch mit uns marschierte, wenn sein Kamerad nicht zu müde und verzweifelt gewesen wäre, um sich drei Minuten bei ihm aufzuhalten und ihm aus einem Schneeloche zu helfen, in welches man als Bube hundertmal in einem Tage zum Scherz gefallen und wieder herausgesprungen wäre! Auf solch eine Hand, mein Oberst, da zählen wir. Aber Gold? Das hat hier keinen sonderlichen Kurs. Als wir vor vier Tagen in Smolensk einrückten, saß ein Artillerist vor dem Tore am Wege und hatte euch einen Klumpen reinen Silbers wie ein Kindskopf groß auf den Knien; es mag wohl aus einem moskowitischen Taufbecken zusammengeschmolzen gewesen sein und die Reise als Kanonenkugel im Protzkasten mitgemacht haben. Aber einerlei, was geht das mich an? Nun, das Stück Silber bot er feil um ein Brot und eine Flasche Branntwein. Aber glaubt ihr, daß er es vom Morgen bis zum Abend losgeworden war, obwohl Tausende an ihm vorbeikamen. Er war endlich glücklich genug, als ihm ein italienischer Oberst ein Stückchen Brot, so groß wie eine Hand, und einen kleinen Schluck aus seiner Feldflasche dafür bot, zusammen nicht für einen Sous an Wert. Ja, so ändern sich die Dinge, mein Kolonel; allein ein französisches Soldatenherz soll sich nicht ändern. So denke ich, mein Oberst! Topp, ich schlage ein! Hand gegen Hand! Mit meinen Wunden, denke ich, wird es bald besser gehen, und dann können wir einander vielleicht aushelfen.«
Der Alte hätte wohl noch eine Viertelstunde geschwatzt, wenn ihn Regnard nicht unterbrochen und gefragt hätte, wie er heiße und bei welchem Regiment er stehe – denn die Uniformszeichen waren nicht mehr ganz kenntlich, und manches fremde Kleidungsstück hatte die Tracht abenteuerlich genug verändert. »Und ihr bleibt auf einem Wagen mit der guten Frau dort?« fragte Regnard. – »Ja freilich, solange unsere Pferde laufen wollen; wenn aber das Futter nicht besser ist als hier, so wird es so gar weit nicht mehr sein.« – »Und wie heißt ihr?« – »Jacques Désiré Pallier, mein Oberst! und diese Frau ist die Witwe Réné.« – »Gut, Pallier! Gut, Frau Réné! Wir wollen uns schon
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