1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
dann?«
»Dann sind wir alle in Gottes Hand«, sagte der Stadtschreiber.
Er liebte seine Stadt, er hätte alles gegeben, um ihr Unheil zu ersparen. Doch durch seine Arbeit im Rathaus und in der Kommandantur wusste er zu viel, um diese verängstigten Frauen noch mit ein paar zuversichtlichen Worten anlügen zu können. Er brachte es einfach nicht über sich. Er würde es aufschreiben, alles, was er sah und hörte, damit den Nachfahren nichts davon entging, was seiner Stadt widerfahren war und noch widerfahren würde.
»Unser guter König hat uns nicht verlassen, er ist in der Stadt. Das wird doch Blücher und die Russen davon abhalten, Leipzig niederzubrennen?«, fragte die Jüngste verzweifelt und sah voller Hoffnung zum Apelschen Haus, in dessen erster Etage der König residierte.
»Er ist doch noch hier, nicht wahr? Er hat die Stadt nicht verlassen?« Tränen rannen über ihr Gesicht.
»Der König ist noch in der Stadt«, bekräftigte der Stadtschreiber und ging, um die Bekanntmachung des Rates an weiteren Stellen auszuhängen.
Überall, wo er einen seiner Anschlagzettel anbrachte, bildete sich eine Menschentraube, die las und dann in Wutgeschrei ausbrach. Diese Wut bekamen auch die Verwundeten zu spüren – mit Flüchen, bösen Blicken und der Verweigerung jedweder Hilfe trotz ihres elenden Zustandes.
Henriette hatte genug gesehen.
All diese Verzweiflung, all dieses unbeschreibliche Elend …
So viel Schmerz und Hass und Tod …
Wie sollte sie die Leere und Hoffnungslosigkeit vertreiben, die ihr Herz angesichts dessen erfüllte? Nur mit Liebe, mit Güte, schien ihr eine Stimme ins Ohr zu flüstern.
Und so ging sie von einem der Verletzten zum anderen, gab ihnen zu trinken, verteilte dieses eine letzte Brot und versprach ihnen, dafür zu sorgen, dass sich jemand um sie kümmern werde. Sie tröstete einen kleinen Jungen, der vor Hunger weinte, und gab auch ihm von dem Brot, dann einer verzweifelten jungen Frau mit einen Kind auf dem Arm, bis keine Krume mehr übrig war.
In Sankt Thomas wandte sich Henriette an den ersten Arzt, den sie traf.
»Sie kommen spät!«, rügte er sie. »Auch wenn Ihre Arbeit hier freiwillig ist, wir zählen fest auf Sie.«
»Ich habe nach den Verwundeten gesehen, die immer noch draußen in der Kälte liegen«, entschuldigte sie sich. »Können wir sie nicht hereinholen? Hier ist es nicht ganz so eisig, und vielleicht retten wir so wenigstens einige von ihnen.«
»Es sind genug gestorben, um Platz für neue zu schaffen«, erklärte der Arzt nach einem Blick durch das Kirchenschiff bitter, in dem nach wie vor Verwundete und Sterbende dicht an dicht lagen. »Doch es werden bald viele neue Verwundete kommen. Hören Sie nicht den Kampflärm? Warten Sie, bis die Kärrner wieder zurück sind, die die Leichen fortbringen. Dann gehen Sie mit ihnen nach draußen und schauen Sie, wen es noch lohnt hierherzubringen. Doch bis dahin nehmen Sie hier wieder Ihre Arbeit auf!«
Nun sah er sie etwas milder an und lächelte sogar ein wenig. »Die Verwundeten hier vermissen Sie schon. Sie sorgen sich um Sie. Um ihren
petit ange.
«
Also ging Henriette wieder von einem zum anderen, verteilte Wasser, ein wenig von der dünnen Suppe und tröstende Worte.
»Ich habe eine kleine Schwester, die sieht aus wie Sie«, sagte ein fiebernder Soldat, dem sie einen kühlenden Umschlag auf die Stirn legte.
»Sie haben die Augen meiner Mutter«, flüsterte ein junger Mann in Jägeruniform, der die Stichwunde in der Brust nicht mehr lange überleben würde.
»Zu Hause wartet meine Braut auf mich, die lächelt wie Sie«, brachte mühevoll ein junger Offizier heraus, dem sie Wasser auf die Lippen tupfte, weil er mit seiner Bauchwunde nichts trinken durfte. Auch er würde bis zum Abend qualvoll sterben.
Für all diese Männer schien sie zu einer einzigen Frau geworden zu sein – oder zugleich zu allen Frauen dieser Welt: Mutter, Schwester, Braut.
Ein blutjunger Füsilier, dem am Vortag ein Bein amputiert worden war und der dabei viel Blut verloren hatte, ließ sie die ganze Zeit nicht aus den Augen. Also ging sie mit einem Becher voll Wasser zu ihm, kniete neben ihm nieder und wollte ihm beim Trinken helfen.
Ängstlich wehrte er ab.
»Diejenigen sterben, zu denen Sie gehen!«
Henriette lächelte wehmütig. »Nein. Es ist genau anders herum. Ich gehe zu denen, die sterben.«
»Werde ich auch sterben?«
Sie antwortete nicht.
»Ich will nicht sterben! Ich fürchte mich. Mir ist so kalt
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