1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
habt, werden das sicher als Fortschritt empfunden haben, dachte Jette sarkastisch. Die Spanier wollten vielleicht einfach nur einen eigenen König behalten, statt Joseph Bonaparte auf den Thron gesetzt zu bekommen.
»Unglaublich, mit welchem Gesindel wir dort zu tun hatten«, fuhr der Major fort. »Straßenräuber, die hinterrücks über uns herfielen! In jeder Hütte konnten welche von denen lauern. Und an deren Seite nicht nur die widerlichen Engländer unter diesem Herzog von Wellesley, sondern auch Deutsche. Können Sie sich
das
vorstellen?«
Mit geheuchelter Arglosigkeit verneinte Jette.
»Männer von der Schwarzen Schar des Herzogs von Braunschweig-Oels. Und als sich Valencia endlich nach langer Belagerung ergab, hatte ich das Vergnügen, einen gewissen Baron von Lützow gefangen zu nehmen.«
Nun bekam Jette große Augen.
»Nicht den, der hier sein Unwesen treibt, sondern seinen Bruder namens Leopold«, erklärte der Major. »Der war einst auch mit diesem Schill unterwegs gewesen, hatte sich aber mit ihm zerstritten und ritt davon, bevor der Rest der Bande in Stralsund zur Strecke gebracht wurde. Erst ging er zu den Österreichern, dann zu den Spaniern, und jetzt ist er bei den Russen, wie ich hörte. Er scheint offensichtlich keine Armee auszulassen, in der er gegen uns kämpfen kann. Irgendwann wird er deshalb wohl auch noch die Preußen heimsuchen. Aber nach seiner Gefangennahme in Valencia war er zu ehrlos, sich für seine Missetaten zu verantworten, und floh.«
»Ist es nicht die erste Pflicht eines Gefangenen zu fliehen?«, wagte Jette vorsichtig einzuwenden. »Sie hätten ihn doch bestimmt zum Tode verurteilt nach alldem, was Sie mir über diesen Mann erzählen.«
»Das verstehen Sie nicht, Demoiselle. Sie sind zu jung und auch nur eine Frau. Als Offizier steht man für seine Taten ein und nimmt mutig die Todeskugel entgegen, wenn es sein muss. Aber wir werden diesen Lützow schon noch erwischen. Und seinen Bruder auch, der hier wie ein Held gefeiert wird. Dann sind die Straßen wieder sicher, und Sie können ruhig schlafen, Demoiselle.«
»Wie soll ich ruhig schlafen, wenn überall Menschen gewaltsam sterben, junge Männer zu Krüppeln gemacht werden?«, fragte Jette aufgebracht. »Jetzt herrscht schon so viele Jahre Krieg, in beinahe ganz Europa … Ich glaube nicht, dass es hier noch einen
Ball
geben wird.«
Bei ihren letzten Worten sah sie zu Étienne, der nun seine Hand über ihre legte. »Mein Wort darauf, es wird schon bald einen Ball in dieser Stadt geben, Demoiselle. Nicht nur einen, sondern sogar zwei. Einen aus Anlass unseres Sieges und einen im August zum Geburtstag des Kaisers. Ganz gleich, welcher davon zuerst stattfindet: Darf ich mich bei Ihnen für die ersten beiden Tänze vormerken lassen?«
Jette blieb nichts anderes übrig, als zu bejahen, sich zu bedanken – und ihre Hand vorsichtig unter seiner hervorzuziehen. Solche Vertraulichkeiten schickten sich nicht.
»Warum glauben Sie mir nicht, Demoiselle Henriette, wenn ich Ihnen sage, dass der Krieg so gut wie vorbei ist?«, beharrte der Major, warf die Serviette erneut beiseite und lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück. »Und wenn Sie beklagen, dass in Europa Krieg herrscht – nun,
wir
haben ihn nicht begonnen. Wir sind schließlich zuerst angegriffen worden. Das Vaterland war in Gefahr, und das Volk griff zu den Waffen. Aber ich will Ihnen etwas über Spanien erzählen.«
Er gab seinem Adjutanten das Zeichen, allen neuen Wein einzuschenken, und trank zuerst, bevor er weitersprach.
»Sie sollten nicht vergessen, dass Spanien eine Kolonialmacht mit beträchtlichen Gebieten in Übersee ist. Die Bevölkerung Lateinamerikas ist von den spanischen Kolonialherren ebenso wenig erbaut, wie die Spanier es von uns sind. Seit Spanien mit seinem Guerillakrieg gegen uns beschäftigt ist, gärt es dort drüben auf dem ganzen Kontinent. Überall erheben sich die Einheimischen gegen die spanische Vorherrschaft. Rebellen in Bogotá haben die Unabhängigkeit vom Mutterland erklärt, in Paraguay ebenso, in Mexiko und Chile gibt es Aufstände. In Venezuela haben Aufständische einen Kongress einberufen, die Unabhängigkeit erklärt und eine Republik ausgerufen. Sie wurden von spanischen Truppen niedergezwungen, und Sie dürfen nicht annehmen, Demoiselle, dass
die
schonend mit den Rebellen umgingen.«
Er legte eine Pause ein, ließ seine Worte wirken und fragte dann: »Sehen Sie die Spanier nun immer noch als Opfer, als Helden? Der Held
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