1823 - Regenten der Träume
verschwendete keine Sekunde an die Idee, in den Körperresten könnte womöglich Leben stecken.
Der Schädel und Teile des Oberkörpers wirkten beinahe unversehrt, nur die Blickleiste des Torsos existierte nicht mehr. Auf ihren Verbleib entdeckte ich keinen Hinweis.
Das Gesicht war eingedrückt. Ob die Leiche zu A-Kestahs oder zu A-Gidecajs Clan gehörte, das mußte ein Vergleich mit Fotos zeigen.
Die Gliedmaßen waren zerschmettert. Arme und Beine wiesen Dutzende von offenen Frakturen auf; dort war das meiste Blut ausgetreten. Von den Fingernägeln der rechten Hand war praktisch nichts mehr übrig, jemand oder etwas hatte sie der Reihe nach abgebrochen. Die linke Hand, die mit der Zentrifaal-Hohlschaufel, war der Länge nach aufgerissen. Hätte sich darin Inhalt befunden, man hätte es jetzt gesehen. Aber da war nichts.
Die Reste des dreigeteilten Rückens lagen auf dem Boden. Eine Vielzahl von Knochensplittern im Blut zeigte an, was mit den beiden Wirbelsäulen geschehen war.
In Brusthöhe sowie in Hüfthöhe war der zentrifaalische Körper auseinandergerissen. Welche Kräfte dazu gehörten, konnte ich mir ungefähr ausrechnen.
Ich hatte so etwas nicht oft gesehen, höchstens bei Unfällen. Wahrscheinlich hätte ein Bruchteil der Verletzungen ausgereicht, um den Tod der Person herbeizuführen.
Es handelte sich aber nicht um einen Unfall. Ich bückte mich und untersuchte den Kopf. Die Sache bereitete mir größte Schwierigkeiten. Mit zusammengepreßten Lippen atmete ich so flach wie möglich.
Der Geruch, den ich ganz zu Anfang bemerkt hatte, drang nun sehr intensiv an meine Nase, stammte also von der Leiche.
„Sag mal, Perry ... Was machst du da?" fragte Reginald Bull gepreßt.
„Ich überzeuge mich, daß das Gehirn wirklich nicht mehr am Leben ist."
„Und?"
Am Hinterkopf war die Schädelplatte eingeschlagen, von einem stumpfen Gegenstand, etwa in der Größe einer Faust.
Ich sagte tonlos: „Da lebt nichts mehr."
Die meisten Verletzungen stammten von einem scharfen Gegenstand oder von mehreren. Ich fühlte mich an die rechten Hände der Zentrifaal erinnert, an die sieben Finger mit den messerscharfen Nägeln.
„Was jetzt, Perry?"
„Ich halte es für das beste, wir geben Alarm."
Einen Augenblick schauten wir noch hilflos den Leichnam an - dann ließ ein Geräusch von hinten meinen Atem gefrieren.
Und eine Stimme sagte: „Damit bin ich nicht einverstanden."
5.
„Das war nur der Anfang."
„Du willst doch das Leben erhalten, A-Gidecaj. Und dennoch planst du einen Mord?"
„Das ist nicht korrekt."
„Der Plan wurde geändert? Heißt es das?"
„Nein. Ich plane keinen Mord. Ich plane keinen Tod. Ich plane siebzehn Tode."
(Psychotaktische Gesprächsprotokolle. A-Betchagas Geheimer Dienst. Auswahlverfahren 11.A.19.)
*
Hinter uns stand ein Zentrifaal. Er hatte sich genähert, ohne einen Laut zu verursachen.
Am Gesicht erkannte ich A-Gidecaj. Die Erfahrung, die wir in der Stadt Gaalo mit Zentrifaal gesammelt hatten, sagte mir, daß der Clans-Führer sich im Zustand kaum beherrschter Erregung befand.
Seine ruhige Stimme war nichts als Maske. Aber eine schlechte, vor uns stand eine Mordmaschine. Das Wesen war nur einssiebzig groß, kleiner als wir beide und allein, doch die Kräfteverhältnisse legten größte Vorsicht nahe.
„Warte!" rief ich hastig. „Wir sind es nicht gewesen, A-Gidecaj! Wir haben nichts damit zu tun."
Der Zentrifaal sagte: „Das weiß ich. Ihr seid nur zu zweit. Ihr wärt niemals imstande gewesen, D-Koker zu verletzen."
„D-Koker?"
„Eine Gefährtin meines Clans."
Er schob mich ohne sichtbaren Aufwand beiseite: Seine Fingernägel ritzten die Haut am linken Arm, nicht einmal mit Absicht, und hinterließen eine blutige Strieme.
A-Gidecaj kniete vor dem Leichnam nieder. Ich erinnerte mich, daß man das Geschlecht eines Zentrifaal von außen nicht bestimmen konnte. Man konnte es lediglich riechen.
Es war demnach die Leiche einer Frau, die wir vor uns hatten. Jetzt wußte ich auch, woran der Geruch mich erinnerte; das bittere Aroma stammte vom Sexualhormon. Ich hatte es bei Zentrifaal-Frauen in Gaalo wahrgenommen, nur nicht so konzentriert.
„Was ist hier passiert?" fragte ich A-Gidecaj.
„Das geht dich nichts an!"
„Ich will es wissen."
A-Gidecaj drehte sich plötzlich um und warf mir einen haßerfüllten Blick zu. „Du hältst den Mund, oder du kannst dich gleich neben D-Koker legen!"
Deutlich genug, dachte ich.
Der Clanführer tastete
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