184 - Das Kreuz der blinden Göttin
da?
Ein schrecklicher Gedanke kam ihm. Hatte der Schmerz sie übermannt? Hatte sie sich im Bad eingeschlossen, heißes Wasser in die Wanne laufen lassen und… sich die Pulsadern aufgeschnitten?
Er rannte zur Tür und schlug mit den Knöcheln auf das weiß lackierte Holz. »Glynis, bist du da drinnen? Ich komm’ rein, Glynis!«
Er stieß die Tür auf, wunderte sich, daß es möglich war. Glynis hatte sich nicht eingeschlossen. Sie war überhaupt nicht da! Einesteils war das ein Grund aufzuatmen.
Andernteils… wo war Glynis?
Ein verrückter Gedanke kam ihm: Sie hat dasselbe gemacht wie Martin!
Blaß verließ er das Bad und hastete auf den Balkon. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er hinunterschaute -und dann entspannte er sich.
Dem Himmel sei Dank, dachte er. Sie liegt nicht dort unten. Aber wo ist sie?
Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte ein paar Züge, um sich zu beruhigen. Sally hatte gesagt, er könnte sich Zeit lassen. Sollte er hierbleiben und auf Glynis warten?
Der Wind riß ihm den Rauch von den Lippen und zerfetzte ihn. Nachdem er die Zigarette halb geraucht hatte, kehrte er ins Zimmer zurück und drückte sie im Aschenbecher aus.
Als er das Zimmer verlassen wollte, stellte er fest, daß die Tür, die ihm der Luftzug aus der Hand gerissen hatte, jetzt klemmte.
Sie ließ sich nicht öffnen.
Das Schloß mußte durch die Erschütterung eingeschnappt sein.
»Zu blöd!« ärgerte sich Rock Cassavetes. Er rüttelte ungestüm am Türknauf, doch das nützte nichts. »Jetzt bist du Glynis’ Gefangener«, brummte er.
Seufzend setzte er sich auf den Stuhl. Nun war er gezwungen, auf Glynis’ Rückkehr zu warten. Mit dem Schlüssel würde sie seine Gefangenschaft beenden.
***
Indes betrat Glynis das Zimmer des »befreundeten« Ehepaares. Sally Cassavetes hörte nicht, wie sich die Tür öffnete und gleich darauf wieder schloß.
Sie lag in der Wanne und versuchte sich zu entspannen. Martins Selbstmord war ein grauenvoller Paukenschlag gewesen. Den Urlaub genießen war jetzt nicht mehr möglich. Sie konnten ihre Anwesenheit nur noch ableisten.
Sie würden nach Masca fahren und nach Teno; würden sich Los Christianos und Playa de las Americas ansehen. Vielleicht würden sie mit dem Schiff nach Gomera fahren und nach Fuerteventura fliegen, wie sie es sich vorgenommen hatten, aber Spaß würden sie daran nicht mehr haben.
Zu tief saß der Schock von Martins Tod.
Sally hörte nebenan etwas.
War Rock schon wieder zurück? Sie hatte ihm doch geraten, sich Zeit zu lassen. Hatte ihn Glynis nach wenigen Minuten schon gebeten zu gehen?
Sally wollte wissen, wie es Glynis im Augenblick ging, deshalb rief sie ihren Mann. »Rock!«
Die Tür öffnete sich, aber nicht Rock kam ins Bad, sondern Glynis. Verwundert sah Sally sie an.
»Du?«
Glynis wirkte geistesabwesend.
»Wo ist Rock?« wollte Sally wissen.
»Ich weiß es nicht.« Glynis nahm den Haarfön - scheinbar ohne es zu merken - in die Hand.
»Ich habe ihn zu dir geschickt«, sagte Sally.
»Ich war nicht in meinem Zimmer.« Glynis kippte den Schalter hin und her.
»Ihr habt euch wahrscheinlich verpaßt«, sagte Sally.
»Kann sein.« Glynis zog den weißen Draht durch ihre Finger.
»Ich dachte, es würde dir guttun, wenn Rock mit dir redet«, sagte Sally.
»Ich werde mit ihm reden - später«, erwiderte Glynis, während der Stecker zwischen ihren Fingern klemmen blieb.
»Wie geht es dir, Glynis? Du mußt dich scheußlich fühlen. Leer. Rock und ich möchten dir gern helfen, aber du mußt uns sagen, was wir tun können.«
Glynis seufzte tief. »Ihr könnt nichts tun. Mein Mann hat sich das Leben genommen. Könnt ihr das rückgängig machen?«
»Das können wir selbstverständlich nicht, aber vielleicht…«
Glynis steckte den Fön an. »Eigentlich… ist es nicht ganz richtig, daß Martin freiwillig aus dem Leben schied.«
Sally sah sie verwirrt an. »Was sagst du da?«
»Ich habe Martin umgebracht.« Glynis schaltete den Fön ein und blies sich warme Luft ins Gesicht.
»Großer Gott, das darfst du nicht denken!« sagte Sally entsetzt. »Solche Schuldgefühle könnten dich gemütskrank machen. Du warst nur übermütig. Dieses Schäkern mit Rock war doch nicht ernst zu nehmen.«
Glynis schaltete den Fön wieder ab. »Du bist dir deines Mannes ziemlich sicher.«
»Was dich betrifft… ja. Bitte versteh das nicht falsch. Du bist sehr nett, aber… Naja, jeder Mann hat so seinen Typ, auf den er abfährt, und dem entsprichst du
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