184 - Die Herren von Sydney
Nikodeemus klopfte Roney auf die Schulter.
Als er gegangen war, legte Roney sich hin und machte die Augen zu. Eine endlose Abfolge von Bildern raste an ihm vorbei. Seine Kindheit im Hort des Hohen Hauses.
Seine Ausbildung. Seine Arbeit. Seine erste Liebe. Wie sie ihn verlassen hatte und kurz darauf ums Leben gekommen war. Seine Verzweiflung. Sein Absturz. Sein Glaube an die Gerechtigkeit des Systems, in dem er aufgewachsen war. Die Erkenntnis, dass man nie frei war, solange andere Menschen über einen bestimmten.
All dies hatte ihn depressiv gemacht und seinen Untergang vorangetrieben.
Dass Archer ihn geschasst hatte, war nur natürlich. Er war in den Kreisen, in denen er sich bisher bewegt hatte, wirklich völlig fehl am Platze.
Es war besser, wenn die Roneys sich auf das beschränkten, was sie am besten konnten: Trinken.
***
Laut Nikodeemus, dessen Wissen aus Folianten der Voreiszeit stammte, hatten sich Herrscher mit religiösen Bewegungen immer schwer getan.
Der Grund lag in der Annahme, dass Menschen, die an Götter glaubten, danach strebten, gottgleich zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, gaben sie sich eigene Gesetze, die nicht immer mit denen weltlicher Herrscher übereinstimmten. Herrscher hatten immer geargwöhnt, dass in den Tempeln der Gläubigen Stimmung gegen sie gemacht wurde; dass Priester gegen sie wetterten, weil sie in ihren Burgen auf Kosten der Armen in Saus und Braus lebten.
Die alten Herrscher hatten sich während der Eiszeit in die Erde zurückgezogen und die spirituelle und weltliche Führung den Kristianern überlassen. Der Orden hatte das Überleben in der lebensfeindlichen Umwelt organisiert. Die Tatkraft und Nächstenliebe der Mönche hatte ihm zahlreiche Anhänger und Unterstützer eingebracht. Über Jahrhunderte hinweg hatte der Orden das Geschick der Menschen gelenkt – bis zu dem Tag, an dem die Militärs aus ihren Löchern gekrochen waren und ihnen mitgeteilt hatten, dass sie nun die Macht übernahmen.
Danach hatten sie die Kristianer aus dem gleichen Grund schikaniert wie die Herrscher der Voreiszeit andere Gläubige. Denn natürlich waren auch sie davon ausgegangen, dass man im Tempel der mildtätigen Kuttenträger ihre Autorität unterminierte.
Roney wusste, dass es dem Hohen Haus sogar einst gelungen war, einen Spitzel in den Orden einzuschleusen. Der Mann, der nach revolutionären Umtrieben Ausschau halten sollte, hatte herausbekommen, dass die Kristianer jedoch nur eins anstrebten: die Rettung der Oper vor dem Wasser, um sie als erweitertes Gotteshaus zu verwenden.
Inzwischen hatte das Oberkommando eingesehen, dass es nichts brachte, die Mönche zu schikanieren. Um sie nicht gegen sich aufzubringen, hatten sie dem Orden die Lizenz erteilt, sich im Hafenviertel auszubreiten.
Als Roney, vom Schnarchen seiner Nachbarn geweckt, nach Mitternacht an die Luft ging, begegnete er Bruder Chaalie, der ihn auf eine Tasse Tee in die Zeltkantine einlud.
Bruder Eddie schenkte ihnen ein und spendierte dem nach Tobakk lechzenden Roney eine Zygar, die noch ekliger schmeckte als die von Nikodeemus. Sie saßen zu dritt vor dem Zelt, tranken Tee und schauten sich die Sterne an, die über der Stadt besonders zahlreich funkelten. Irgendwann erkundigte sich Bruder Chaalie, ob Roney sich körperlich in der Lage fühlte, für Kost und Logis täglich die Schaufel zu schwingen.
Seihe Fragestellung war geschickt: Welcher echte Mann hätte geantwortet: »Ich bin leider ein Schwächling und für Schwerarbeit nicht geeignet?«
»Ja, klar«, sagte er, nicht zuletzt auch aus dem Grund, weil er meinte, es könne ihm nur nützen, wenn er sich so tief wie möglich in den städtischen Untergrund verkroch.
Und so wurde er nach dem Ende der Teepause, vier weiteren Stunden Schlaf und einem kräftigen Frühstück in dem verheerend vor sich hin gammelnden Teil des Opernhauses fester Bestandteil einer langen Eimerkette.
Es war Knochenarbeit. Roney und seine Kollegen standen bis zu den Knöcheln im Grundwasser, das aus den überspülten, von Laternen erhellten Gängen an die Oberfläche befördert werden musste. Roney trug, wie die anderen, Arbeitshandschuhe, die jedoch nicht verhinderten, dass seine Handflächen wund wurden und seine Finger anfingen zu schmerzen. Nach zwei Stunden glaubte er, sein Kreuz bräche durch. Nach drei Stunden musste er sich zusammenreißen, um sich nicht in die weiterzureichenden Eimer zu übergeben. Nach vier Stunden mussten zwei Kollegen einen älteren Knaben nach oben
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