1849 - Der Unheilbringer
Aufatmen gönnte ich mir nicht.
Ich hatte mit Justine Cavallo gesprochen. Und wenn sie mitmischte, dann war das Grauen fast greifbar. Noch blieb sie wie ein Geist im Hintergrund.
Es gab keine Gassen oder Straßen, in denen man sich verlaufen konnte. Hier war alles überschaubar. Die Hauptstraße führte in eine Kurve, bevor sie sich dem Ortsende näherten. Kleinere und vor allen Dingen schmalere Gassen zweigten ab. Ich tauchte ebenfalls in sie ein und beobachtete dort das Geschehen.
Jedenfalls war ich keiner von den Verkleideten, die schellten und Süßigkeiten verlangten. Wenn sie keine bekamen, wurden sie sauer, dann gab es auch Saures. Manchmal wurden Wände mit Zahnpasta beschmiert oder auch Tore mit Farbe bemalt. Ärger lag auch in der Luft, und so mancher Geist fing sich einen menschlichen Haken, der ihn in die Flucht trieb.
Das alles beobachtete ich, und ich war mir sicher, dass auch ich beobachtet wurde, aber ich sah nichts Verdächtiges. Hin und wieder wollte man mich in Schrecken versetzen. Da wurden mir künstliche blutrote Gedärme entgegen gehalten oder man bedrohte mich mit archaischen Waffen.
Wer das tat, war nicht zu erkennen. Die meisten der jungen Leute hatten sich unkenntlich gemacht. Entweder waren die Gesichter angemalt oder durch Masken verdeckt.
Dann passierte doch noch was.
Mein Handy meldete sich. Ich rechnete damit, dass Suko etwas von mir wollte, deshalb war ich auch schnell dabei, mich zu melden.
»Ja, ich …«
»Hi, John, altes Feuerross.«
Ich verzog mein Gesicht. Es war sie, es war die Cavallo, und da schnaufte ich erst durch.
»Na, wie gefällt dir die kleine Stadt?«
Aha, sie wusste also, dass ich unterwegs war.
»Recht nett.«
»Mir auch, John, mir auch. Ich muss dir sagen, dass ich Hunger verspüre.«
Ich schluckte erst mal.
»Hast du mich gehört?«
»Ja, das habe ich.«
»Und?«
»Ich kann es nicht ändern.«
»Das weiß ich. Aber ich werde mich erst mal richtig sättigen. Und weißt du, wessen Blut ich mir ausgesucht habe?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Dann will ich es dir sagen. Ich habe mir das Blut eines gewissen Timmy Burke ausgesucht. Diesen frischen, reinen und auch herrlichen Trank. Ist das klar, Geisterjäger …?«
Ja, es war mir klar, und ich wusste zugleich, dass der Sohn des Pfarrers kaum noch eine Chance hatte.
Ich wollte etwas sagen, aber da war die Verbindung nicht mehr existent …
***
Ich blieb dort stehen, wo ich war. Um mich herum pulsierte der Halloween-Trubel, aber ich kam mir vor wie der einsamste Mensch auf der Erde, denn ich stand mittendrin, ohne jedoch etwas unternehmen zu können. Ich fühlte mich ausgesperrt und an den Rand gestellt.
Die Cavallo hatte mal wieder gewonnen.
Aber hatte sie das wirklich?
Ich war kein Mensch, der so schnell aufgab, auch wenn es mal nicht so gut lief. Ich suchte immer nach einer Möglichkeit, etwas zu verändern. Und jetzt stellte sich die Frage, wo sich Timmy Burke befand.
Die Cavallo hätte es mir nie gesagt, aber es konnte sein, dass ich es auch so herausfand. Dazu brauchte ich eine wichtige Information, die ich von Alan Burke erfahren wollte.
Seine Nummer hatte ich mir aufgeschrieben. Jetzt rief ich sie ab. Tatsächlich, ich hatte mich nicht vertan, er meldete sich mit gepresster Stimme.
»Ja, Pfarrer Burke.«
»Keine Angst, ich bin’s nur, John Sinclair.«
»Ah ja, das ist gut. Wo stecken Sie eigentlich?«
»Keine Sorge, ich bin im Ort.«
»Ja, das ist gut. Worum geht es?«
»Um Ihren Sohn.«
»Wieso das?« Plötzlich zitterte seine Stimme.
Ich hielt mich mit einem Kommentar zurück und fragte vorsichtig: »Hat Ihr Sohn ein Handy?«
»Nein, das hat er nicht.«
»Schade.«
»Warum, was ist los?«
»Ich habe ihn nur etwas fragen wollen.«
»Und was?« Ich hörte schon die Furcht aus dem Klang der Stimme. Da musste ich mir blitzschnell eine Ausrede einfallen lassen. »Ich wollte nur wissen, ob er allein unterwegs ist oder mit einer Clique.«
»Mit Freunden, wenn ich recht informiert bin.«
»Das hört sich gut an, danke.« Ich wusste, dass der Pfarrer noch Fragen hatte, denen aber wollte ich aus dem Weg gehen. Da war es besser, wenn ich auflegte.
Es war nichts mehr wie vor dem Gespräch. Ich spürte den Druck im Magen, der sich bis hoch zur Kehle ausgebreitet hatte, sodass ich Probleme bekam, Luft zu holen.
Ich hatte mir die Dinge anders vorgestellt, aber jetzt war nichts mehr zu machen.
Wen die Cavallo einmal in ihren Klauen hatte, den gab sie so schnell nicht
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