185 - Ein Albtraum erwacht
Wohlstand zu Hause, das war nicht zu übersehen. Die Bewohner von Toon schienen darüber hinaus im Umgang mit anderen Menschen keinesfalls geübt.
Vielleicht wurden sie ein oder zwei Mal im Jahr von einzelnen Handlungsreisenden aufgesucht – aber sie würden der geballten Ladung an Versuchungen, die sich binnen kürzester Zeit über sie ergießen würde, hilflos gegenüber stehen.
Dies hatte Aruula nicht weiter zu kümmern. Ihre Arbeitskraft war an ganz anderer Stelle vonnöten. Sobald die Handelswaren aus dem Roodtren entladen worden waren, würde sie sich um weitere Sicherheitsvorkehrungen für das stählerne Gefährt kümmern.
Nervös schob sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war während der letzten beiden Tage ein gutes Stück weiter in Richtung des Landesinneren gekommen. Die magische Anziehungskraft des brennenden Felsens verstärkte sich weiter und wies ihr den Weg. Am liebsten hätte sie eines der Reittiere genommen, ein wenig Proviant dazu gepackt, und wäre davon geritten, ohne sich weiter um das Schicksal der Dörfler und Händler zu kümmern.
Sie atmete tief durch. Ihr Verantwortungsbewusstsein war viel zu stark ausgeprägt – leider. Aluur, Syd, Franny und viele andere der Reisenden waren ihr allzu rasch ans Herz gewachsen.
Gejohle und Gejauchze erklang. Frannys Mädchen stürmten aus ihrem Wagen, eilten mit blass geschminkten Gesichtern und wackelnden Hinterteilen ins Innere des Palisadendorfes.
Die Kaufleute von OZZ wussten nur zu gut, wie sie die Geldkatzen der hiesigen Bewohner am besten lockern konnten.
Aruula folgte den Huren in einigem Respektabstand. Die Wachen starrten sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Begierde an. Hinter dem breiten Tor verengte sich der Weg schlauchähnlich und mündete in einem Einlass, der so schmal und niedrig gebaut war, dass sich Aruula bücken musste.
Schlau gemacht, dachte Aruula. Wer auch immer durch dieses Tor tritt, ist im Nachteil. Krieger, die links und rechts davon warten, können einen möglichen Gegner mit einem einzigen Hieb töten.
Blinzelnd sah sie sich in Toon um. Schmucke zweistöckige Gebäude mit spitzen Türmen prägten das Bild des Dorfes.
Gepflasterte Wege führten sternförmig von hier weg. Karren, die von Nutzvieh gezogen wurden, transportierten Erntewaren.
»Ich befürchte, ich werde hier kein Geschäft machen«, seufzte Syd, der neben ihr zu stehen kam. »Siehst du die schmalen Wasserkanäle neben den Wegen? Die Körbe, in denen Mist gesammelt wird? Das Symbol des Wundheilers und Baders in dieser Gasse?« Er schüttelte traurig den Kopf.
»Meine Dienste werden in Toon nicht benötigt. Ich muss also hoffen, dass der Roodtren so rasch wie möglich weiterfährt und ich in der nächsten Ansiedlung mehr Glück habe. Sonst…«
»Sonst?«
»Der Rabbadaag sieht es gar nicht gern, wenn man die Fahrtkosten schuldig bleibt. Es kann mir ohne weiteres passieren, dass ich mich eines Nachts inmitten des großen Nirgendwo ausgesetzt wieder finde. Es gibt genügend Händler, die mir meinen Platz neidig sind.«
»Solange ich Mitglied der Wachmannschaft bin, wird das nicht passieren«, sagte Aruula schmallippig.
»Jedermann weiß, dass du uns so rasch wie möglich wieder verlassen wirst.« Syd lächelte traurig. »Aluur hat mir verraten, dass du den Weg zum brennenden Felsen suchst.«
»Dieser Bengel – na warte! Dem werde ich… Moment mal!« Sie blickte den Alten forschend an. »Weißt du, wo der Berg zu finden ist?«
»Ich vermute, du meinst den roten Felsen, das Heiligtum der Anangu.« Syd nahm Aruula am Arm und schob sie beiseite, während hinter ihnen der schmale Durchgang von den Wächtern mit wenigen Handgriffen verbreitert wurde. Die Händler und deren Helfershelfer brachten ihre Waren ins Dorf.
»Sein eigentlicher Name lautet Uluru. Die Anangu bewachen ihn wie einen kostbaren Schatz.«
Aluur näherte sich ihnen. Er schüttelte seine Beine aus, als wären sie es nicht gewohnt, über Boden zu marschieren, der nicht schwang und schaukelte.
»Da ist ja der Übeltäter!«, sagte Aruula grinsend. Sie vergab dem Jungen seine Indiskretion augenblicklich. Syd erschien ausreichend vertrauenswürdig.
»Ich möchte mich ein wenig in Toon umsehen«, sagte Aluur. »Würdest du mich begleiten?«
»Gerne.«
Der Mischling fühlte sich sichtlich unwohl abseits des Roodtrens; auch wenn ihn die Bewohner Toons kaum beachteten, wirkte er doch unsicher. Spott, Hass und Hohn verfolgten ihn wegen seiner Andersartigkeit wohl schon
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