1852 - Die Galornin
sie fühlte, wie unsinnig das Verbleiben in der Kinderstadt war. Sie fühlte sich erwachsener als die Erwachsenen und gierte mit allen Fasern ihres Seins danach, endlich den Kampf mit dem Drachen hinter sich zu bringen und zu den Sternen aufzubrechen, die Galornen aus ihrem Tiefschlaf wachzurütteln, Eroberungen zu machen und neue Dinge zu entdecken. Jeder Tag, den sie hier in diesem Gefängnis verbrachte, war ein verlorener Tag.
Und dann, ein halbes Jahr vor ihrem fünfzigsten Geburtstag, war es soweit.
Die Energiepforte in der Mauer öffnete sich vor ihr. Sie verschwand einfach, und vor Kaif war ein drei Meter breites Tor, durch das sie auf den Schacht hinter der Ringmauer sehen konnte. Das orangefarbene Leuchten war selbst jetzt, bei Tage, sichtbar.
Es war so überraschend gekommen, daß Kaif zögerte. So lange hatte sie diesen Augenblick herbeigesehnt, daß sie sich jetzt hilflos vorkam und unwillkürlich Ausschau nach dem großen Fremden hielt.
Irgendwie hatte sie das Gefühl, als müsse er jetzt vor ihr erscheinen und ihr einige Worte sagen, die ihr den Schritt durch die Pforte erleichterten.
Doch der große Galorne kam nicht, und sie sah auch keine Erzieher am Rand des Platzes, so wie sonst.
Alles schien sich von ihr zurückgezogen zu haben, als ob die Kinderstadt froh wäre, daß sie endlich von hier verschwand.
„Es soll mir nur recht sein", redete Kaif Chiriatha sich Mut zu. Sie verstand ihr Zögern selbst nicht, und das machte sie wiederum zornig auf sich selbst.
Ich habe keine Angst vor dem Drachen! Ich werde den Kampf mit dem Drachen gewinnen!
Mit diesem Gedanken durchschritt sie die Öffnung. Hinter ihr schloß sich die undurchsichtige Energiepforte. Es gab jetzt kein Zurück. Sie war allein innerhalb des ausgegrenzten Teils der Stadt.
Sie war allein mit dem Schacht und dem Drachen. Selbst wenn sie jetzt laut um Hilfe gerufen hätte, hätte sie niemand von außerhalb der Mauer erreichen und ihr beistehen können.
Langsam ging sie auf das riesige Loch zu. Es wirkte auf sie wie ein weit aufgerissenes Maul, aber sie glaubte nicht, daß der Drache etwas Körperliches war. Sie hatte sich oft vorzustellen versucht, was hinter dem Begriff steckte, und ahnte, daß es etwas Metaphysisches war, eine Kraft nicht aus Fleisch und Blut.
.Es gab keine Gebäude innerhalb der Ringmauer, auch keine erkennbaren technischen Einrichtungen - keine Bäume und Büsche, nur den geplatteten Boden und die Öffnung des Schachts, die größer war als eines der vielen Sportfelder in der Kinderstadt.
Kaif spürte die Macht, die dort in der Tiefe auf sie wartete, nun viel stärker als bei ihren Annäherungen von außen an die Mauer. Dort unten lebte etwas, es lauerte auf seine Opfer. Ein Dämon vielleicht, eine geistige Manifestation, die vom Geist der besiegten Galornen lebte.
„Nein!" sagte Kaif Chiriatha laut, den Blick starr auf den Rand des Schachtes gerichtet. „Du jagst mir keine Furcht ein. Und das kännst du dir auch sparen, ich komme freiwillig!"
Sie meinte damit das Locken, das sie plötzlich empfing. In ihr wuchs ein Drang, an den Rand des Schachts zu treten und sich hineinzustürzen. Unbewußt mochte sie es die ganze Zeit schon gespürt haben, schon als sich die Pforte für sie öffnete.
Jetzt wußte sie, was die anderen Kinder - jene, die wie Dauw voller Angst waren - dazu brachte, es dennoch zu tun: sich trotz ihrer Furcht vor diesem Ort hierherzubegeben, wenn die Zeit reif war. Dann durch die Mauer zu treten, an den Schacht heran ... Das Locken mußte ihren ganzen Verstand ausfüllen, je länger sie zögerten.
Kaif stand nur noch drei Schritte vor der Öffnung. Komm, wisperte es in ihr. Komm zum Spiel ..
„Sicher", sagte sie, aber nicht mehr so laut und so fest. „Gleich ..."
Sie versuchte, etwas in dem orangefarbenen Leuchten zu erkennen. Es war wie ein Nebel im Schacht, der von unten her angestrahlt wurde. Dann drehte sie sich und sah sich noch einmal um; zum letztenmal suchte sie den großen Fremden oder hoffte, Dauw würde ihr in einer Vision erscheinen.
Nichts. Es war totenstill in der Stadt der Kinder. Der Schacht schien alle Geräusche zu schlucken.
Es war der Abschied von allem, was sie kannte. Und sie .schalt sich eine Närrin, einen Schwächling.
Endlich war sie am Ziel angelangt, und sie hatte nichts zu tun, als hier zu stehen und lächerlichen Gefühlen nachzuhängen.
Kaif Chiriatha stieß einen langen Schrei aus und sprang in den Schacht.
*
Sie hatte etwas Ähnliches
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