1852 - Die Galornin
noch nicht. Ich weiß, daß du denkst, das Spiel mit dem Drachen gewinnen und danach auf große Eroberungsfahrt gehen zu können. Du willst ein neues Zeitalter einläuten, alle Grenzen sprengen. Das kann dir gelingen, Kaif. Ich weiß, daß du jetzt glaubst, die Kraft dazu zu haben. Aber das wird sich ändern, nachdem du beim Drachen warst, und dann wird dir dein Haß nicht mehr helfen. Du wirst andere Werte brauchen, um zu überleben und an dein großes Werk zu gehen. Werte, die du bereits weggeworfen hast oder im Begriff bist, auch den letzten Rest von ihnen in dir abzutöten. Worum ich dich bitte, ist, darüber nachzudenken und mit dem, was du heute tun willst, noch zu warten. Wenn es deiner Ansicht nach unbedingt nötig ist, läuft es dir nicht weg."
Sie starrte ihn aus großen Augen an, ihre Nasenflügel bebten.
„Woher weißt du das?" fragte sie fassungslos. „Das von dem, was ich tun will ... tun muß? Und von meinen Visionen?"
„Ich weiß noch mehr von dir, Kaif Chiriatha", sprach er und richtete sich auf. „Deshalb besuche ich dich. Ich beobachte dich schon seit langem."
„Dann bist du doch ein Erzieher!" rief sie wütend aus.
Er lächelte wieder dieses feine, ausdrucksvolle Lächeln, das ihn so unangreifbar machte und sie verstörte.
„In gewisser Hinsicht magst du recht haben, Kaif", sagte er.
Aber es klang nicht so, als spräche ein Erzieher von oben herab zu ihr. Es hörte sich eher so an, als spräche er mit einer gewissen Achtung, fast wie zu einer Gleichrangigen; einer, deren Ansichten er zwar verurteilte, aber doch respektierte, weil sie wenigstens eigene Ansichten hatte, statt ihre Jugend durch dumme Spiele und sinnloses Training zu vergeuden.
„Wirst du über meine Bitte nachdenken?" fragte der Unbekannte.
Sie antwortete nicht, doch das schien ihm bereits zu genügen. Er nickte ihr freundlich zu und drehte sich um.
Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, hörte Kaif Schritte hinter sich. Zwei Erzieherinnen kamen herbei und starrten dorthin, wo sich der große Fremde wie in Luft aufgelöst hatte.
Dann sahen sie Kaif an, und noch nie hatte sie ihre Erzieher so hilflos verwirrt gesehen. Sie schienen nicht begreifen zu können, was sie zweifellos aus der Ferne beobachtet hatten.
„Er hat mit dir gesprochen", sagte eine von ihnen. „Ausgerechnet mit dir ..."
„Warum nicht?" fragte Kaif schnippisch, ohne den Sinn der seltsamen Frage zu begreifen.
„Mit dir ...",flüsterte die andere Erzieherin ebenso ergriffen und sah sie an, als erblicke sie sie zum allerersten Mal.
Und das war etwas, woran sich Kaif Chiriatha während der nächsten Tagen und Wochen gewöhnen mußte.
*
An diesem Abend mischte sie das Gift nicht in das für Lopt Zadheven und seine Wohngenossen bestimmte KaschPhee. Sie hatte die kleine Flasche zwischen den Bäumen vergraben und konnte es jederzeit holen, um ihre Rache zu vollziehen.
Doch Tag für Tag verging, und Lopt lebte immer noch.
Der Unterricht interessierte Kaif inzwischen überhaupt nicht mehr, obwohl die Erzieher und Erzieherinnen ihr plötzlich so ganz anders begegneten. Hatten sie wirklich Angst vor ihr oder war das eine Form von nicht eingestandenem Respekt?
Der große Fremde, der seinen Namen nicht nennen wollte, ging ihr nicht aus dem Sinn. Mehr noch als vorher träumte sie nachts von ihm. Und als sie wieder einmal schwitzend aufwachte, mußte sie sich eingestehen, daß sie eine fast panische Furcht vor ihm hatte - nicht vor ihm als Person, sondern vor dem, was er gesagt hatte und wieder sagen würde, wenn er auf einmal wieder da war, wie aus dem Nichts gezaubert.
Sie träumte auch viel von Dauw, und in ihren Träumen fragte sie sie, was sie ihr angetan habe, als sie sie dieses unglaubliche Glück spüren ließ, in der Minute ihres Erlöschens. Und Dauw stand wieder vor ihr und antwortete: „Nimm es mit, meine Seele, das Glück und meine Liebe zu dir. Du wirst einmal alle Liebe brauchen, die du aufzubringen vermagst. Hüte sie wie einen Schatz!"
Es klang wie von dem Fremden gesprochen.
Kaif wußte, daß sie ihm wieder begegnen würde und daß er sie fragen würde, ob sie seine Bitte erfüllt hatte. Der Gedanke an Lopt und seine Schuld an Dauws Tod beschäftigte sie Tag und Nacht. Und irgendwann fand sie die Lösung.
Sie konnte ihn nicht mehr töten. Schuld daran waren die Worte des Fremden und das, was sie in ihr angerichtet hatten. Also mußte sie ihn anders vernichten.
Kaif Chiriatha forderte Lopt Zadheven zu einem
Weitere Kostenlose Bücher