1852 - Die Galornin
ließ.
Sie starrte auf sein breites Armband. Eine unerklärliche Faszination ging davon aus.
„Oh", sagte er. „Stör dich nicht daran. Es ist nur ein Werkzeug und ein treuer Begleiter. Es ist mein Passantum."
„Was heißt das - Passantum?" wollte sie wissen.
Sie fing sich schnell, indem sie sich immer wieder sagte, daß er trotz allem doch nur ein Erwachsener war, vielleicht sogar eine Art Obererzieher, den Seda Golaer geschickt hatte, um sie durch seine zweifellos vorhandene mentale Ausstrahlung in die Knie zu zwingen.
Er ging nicht auf die Frage ein, sondern wiederholte die eigene: „Was ist das Leben, Kaif?"
„Was soll das?" reagierte sie verwirrt. „Ist dies eine andere Art philosophischer Unterricht? Ich habe es den Erziehern schon gesagt: Das Leben ist Kampf, nichts als Kampf und Herausforderung. Natürlich siehst du das anders, genau wie sie."
„Da hast du recht", meinte er, immer noch lächelnd.
Bevor er ihr ein nutzloses Gespräch über Friede und Güte aufzwingen konnte, ging sie in die Offensive.
Später gestand sie sich ein, daß sie es aus Angst tat - Angst vor einer Überlegenheit, die sie spürte, als nehme sie ihr die Luft zum Atmen.
„Du hast mir das Leben gerettet", sagte sie."Warum hast du zugelassen, daß Dauw starb?"
Sie dachte nicht nach, fragte einfach. Daß der Fremde Dauw sicher gar nicht mehr hätte erreichen können, kam ihr nicht in den Sinn. Unterbewußt ging sie davon aus, daß er sie hätte zurückhalten können, wenn er es nur gewollt hätte; durch seine Kraft, seine Aura.
„Du traust mir wohl Wunder zu", sprach er genau das aus. „Die kann ich nicht vollbringen. Die Kraft der Liebe ist groß, aber es gibt Momente, da auch sie ihre Grenzen hat."
„Die Kraft der Liebe!" rief Kaif wegwerfend aus. „Das ist Humbug! Ich glaube nicht an diese Liebe.
Die, die ich hatte, ist mit Dauw gestorben."
„Du irrst dich", sagte der große Fremde. „Die Liebe kann nie erlöschen. Sie kann mit dem Geist entweichen und in das Universum eingehen, wenn jemand stirbt, oder sie kann sich einkapseln wie das Gift, das all die Jahre in Dauws Körper schlief. Erinnere dich an das, was du empfunden hast, als Dauw dich für immer verlassen hat, Kaif. Ein Teil davon hat sich in dir niedergeschlagen. Dauw hätte genau das gewollt. Sie hat sich für dich geopfert."
„Ich habe sie nicht darum gebeten!" wehrte die junge Galornin ab. „Ich wollte es nicht!"
„Aber sie wäre auf jeden Fall bald gestorben, und zwar qualvoll, das weißt du. Sie hat ihrem Leben mit ihrem Tod einen Sinn gegeben. Sie hat dich so sehr geliebt, daß sie nicht zögerte. Sie war glücklich, es tun zu dürfen."
Kaif Chiriatha schwieg und sah ihn an.
„Jeder junge Galorne besitzt diese Sehnsucht in sich", fuhr der Fremde fort. „Das Verlangen, seinen Nachbarn Gutes zu tun. Es wird bei euch durch die Aggression noch überlagert, das ist ganz natürlich und hat wie alles im Leben und in der Schöpfung seinen Sinn, Kaif. Doch es kommt bald die Zeit, da es alles ist, was ihr noch habt. Dann wirst auch du dich daran klammern, um nicht zu ertrinken."
Jetzt war es doch wieder soweit. Sie mußte sich die Phrasen eines Erwachsenen anhören, und ihr war sehr unwohl dabei. Was die Erzieher predigten, das ging an ihr vorbei, es war Geplapper und hinterließ keine Wirkung.
Was dieser große Mann jedoch sagte, traf sie mitten ins Herz.
Einen Augenblick lang war ihr danach, einfach fortzulaufen. Aber sie ahnte, daß er sie wiederfinden würde, an einem anderen Tag, bei einer anderen Gelegenheit.
„Wer bist du?" fragte sie leise. „Was willst du von mir?"
„Mein Name tut nichts zur Sache", sagte er sanft. „Und wollen tue ich auch nichts von dir. Ich werde niemals etwas von dir verlangen, Kaif Chiriatha. Ich wünsche mir nur, daß ich dich um etwas bitten darf."
Wieder war sie verwirrt und fühlte sich waffenlos. Hätte er jetzt eine Forderung an sie gerichtet, dann hätte sie ihm ihr „Nein!" ins Gesicht schreien können. Aber er wollte sie bitten - und fragte sie fast noch um Erlaubnis dazu!
„Was ... was ist es?" fragte sie mit trockenem Hals, hin und her gerissen zwischen vorzeitiger Ablehnung und anderen, vergessen geglaubten Gefühlen, die sie nicht wahrhaben wollte. Wieso konnte sie ihn nicht einfach dafür hassen, daß er sie belästigte?
Der Fremde nickte. Plötzlich wurde er ernst.
„Du bist im Begriff, etwas zu tun, das dich dein ganzes Leben lang verfolgen wird, Kaif", sagte er.
„Nein, antworte
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