1853 - Im Zeichen von Thoregon
können."
Sie sahen sich einen Moment in die Augen, dann lachten sie beide. Es klang ein bißchen wehmütig in Kaifs Ohren, weil sie an Lopts Tod denken mußte.
„Warum bist du gekommen, Kaif?" fragte die Erzieherin. „Ich freue mich, aber mittlerweile bist du mir weit überlegen. Was kann ich einfache Lehrerin heute noch für dich tun?"
„Mir zuhören", sagte Kaif. „Und vielleicht ... mir eine Freundin sein."
*
Es war heraus.
Kaif Chiriatha, in Ce Rhiotons Abwesenheit die unangefochten mächtigste Galornin dieser Zeit, war zurückgekehrt zu ihren Anfängen, weil sie in ihrer Gegenwart niemanden kannte, dem sie sich so offenbaren konnte wie den Verstorbenen.
Weil sie jetzt wußte, daß die Ereignisse der letzten Zeit kein Zufall mehr waren, sondern eine besondere, vielleicht schicksalhafte Bedeutung besaßen.
Und so hatte sie sich ihrer ersten Erzieherin erinnert und an ihre Aufgeschlossenheit, die sie damals als Borniertheit empfunden hatte.
Es war kein Zeichen von Schwäche, keine Flucht. Doch Kaif Chiriatha brauchte einen anderen Galornen, mit dem sie ihre großen Probleme bereden konnte. Sie brauchte das Gespräch.
Sie hätte es allein geschafft. Sie hätte allein alle bevorstehenden Entscheidungen getroffen und sie konsequent durchgesetzt und mit ihrem Leben, mit ihrer ganzen Existenz verteidigt.
Doch sosehr sie als Kindhier an diesem Ort - geglaubt hatte, daß kein Konflikt groß genug sein konnte, um mit ihm zu wachsen, so sehr sehnte sie sich jetzt nach Harmonie und der Geisteseinheit mit einem anderen Galornen, die sie trug und ihr das leichter machen würde, was auf sie zukam.
Auch jetzt ahnte sie noch nicht, wie groß der Schock sein würde, der sie in weniger als drei Tagen ereilen würde und der dazu geeignet sein konnte, das ganze Weltbild der Galornen in sich zusammenstürzen zu lassen.
„Ich war schon immer deine Freundin, Kaif", sagte Seda Golaer, „auch wenn du es mir nicht leichtgemacht hast und mir nie geglaubt hättest. Ich liebe die Kinder, die mir anvertraut werden, ohne Unterschied. Aber ich sehe, wenn eines von ihnen beginnt, seine eigenen Gedanken zu entwickeln. Das erhebt es aus der Masse. Es kann Erfolg haben oder straucheln, zu sich selbst finden oder untergehen. Soll ich ehrlich zu dir sein, Kaif?"
„Natürlich", antwortete sie.
Seda Golaer lächelte fein.
„Bei dir hatte ich befürchtet, daß du an deinem eigenen Haß zugrunde gingst. Aber du hast mich eines Besseren belehrt. Vielleicht mußtest du so stark hassen, um später einmal so viel Liebe aufbringen zu können."
„Liebe!" Kaif Chiriatha lachte trocken. „Sie ist ein edles Motiv, nicht wahr? Oh, ich habe geliebt, und was ist mir davon geblieben?"
„Ich weiß, Kaif", sagte die Erzieherin. „Ich weiß, wen du verloren hast. Dein Leben ist leider nichts mehr, was man geheimhalten kann."
„Manchmal könnte ich dieses ganze Aufsehen verwünschen!" fuhr Kaif auf - und erschrak im nächsten Moment vor sich selbst. „Bitte entschuldige! Ich kam nicht her, um das zu sagen."
„Das weiß ich doch auch."
Seda löste sich aus ihrer Matte und ging zu Kaif Chiriatha hinüber. Sie nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich.
Und in diesem Moment dachte Kaif, daß ihre tote Freundin Dauw sie an sich pressen würde. Sie fühlte sich in einen Strudel der Geborgenheit gerissen, hingezogen und verschmelzend mit einem anderen Wesen, hineintauchend in ein Meer der vollkommenen Harmonie.
Ihre Geister verschmolzen miteinander, und gemeinsam gingen sie auf die Reise ins Universum. Kaif war in diesen Momenten - waren es Sekunden, Minuten, Stunden oder Jahre? - vollkommen schwerelos, sie besaß keinen Körper mehr. Sie raste mit Seda durch Galaxien und sich bildende Sonnensysteme, besuchte Planeten voller neuem, fremdartigem Leben, das doch so verwandt war, und wurde Zeuge von technischen und geistigen Großtaten.
Gemeinsam schlossen sie Kontakt mit den Geistern unbekannter Sternenvölker am Rand und in der Mitte des Universums und lebten mit ihnen, bauten auf, hoben Schätze an Wissen und Weisheit. Sie erlebten ein All, das sich, jenseits aller Konflikte, gegenseitig befruchtete. Kriege und Leid waren ausgeklammert. Es gab nur die Liebe und die ungeheuerliche Kraft der friedlichen Evolution.
Kaif Chiriatha tauchte nur langsam aus ihrer Inneren Welt auf. Als sie ihre reale Umgebung wieder wahrnahm, sah sie die Erzieherin wieder ihr gegenübersitzen.
„Ich wußte nicht, daß unsere Kraft so groß
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