1853 - Im Zeichen von Thoregon
einen halben Tag in ihrem Haus, ohne zur Ruhe zu kommen. Sie stellte sich immer wieder vor, wie der Adlat vor sie hintrat und auf ihre Fragen schwieg. Und wie er dann, ganz plötzlich, den Kopf hob - und sie ansah und verlangte, mit Ce Rhioton zu sprechen!
Das würde bedeuten, daß sich die Voraussage des zweiten Boten erfüllte; daß er nicht von seiner Mission zurückkehrte.
Kaif Chiriatha sprach an diesem Abend wieder einmal über alle Kom-Netze zur Bevölkerung der Pentrischen Wolke, zu den Bewohnern von Helter Baaken und zu den Galornen, die entweder im Weltraum arbeiteten oder in den Forschungsstationen der Extremplaneten ihren Dienst taten.
Erstmals seit dem Shifting gab sie der Bevölkerung einen Bericht über die Vorgänge in Plantagoo und schloß mit der Gefangennahme des Raumschiffsentführers. Es wäre dumm gewesen, darüber zu schweigen. Die zwischen Helter Baaken und draußen hin und her gegangenen Funksprüche waren von vielen Stationen empfangen und aufgezeichnet worden.
Danach tat sie etwas, das ihr ganz spontan in den Sinn kam. Die sieben Schiffe wurden nicht vor Anbruch des nächsten Tages zurückerwartet.
Kaif Chiriatha begab sich an diesem Abend unbemerkt in die Stadt der Kinder, in der sie als kleines Ungeheuer herangewachsen war, eines der schlimmsten von allen.
Sie fand zielsicher den Weg zu ihrer alten Schule. Die meisten Lichter waren bereits gelöscht. Sie trat durch den Eingang und schlich leise den langen Korridor bis zu dem Antigravschacht entlang, der sie ins obere Stockwerk trug dorthin, wo die Erzieher wohnten.
Seda Golaer saß noch in ihrem Arbeitszimmer. Sie hockte mit verschränkten Beinen in der primitiven Hängematte aus grünem Satoyyah-Bast, die immer noch in der Nische inmitten von farbigem Dikkicht gespannt war, und las in einem dicken Buch.
Als Kaif zuletzt hiergewesen war, vor fast zweihundert Jahren, war der alles erfüllende Dschungel noch nicht ganz vollkommen gewesen. Jetzt hatten sich auch die letzten Löcher in der perfekten Illusionswelt geschlossen, die aus dem Geist und den Sehnsüchten der Erzieherin nach einer heilen, unberührten Naturwelt gewachsen war.
„Hallo, Seda", sagte Kaif Chiriatha leise. „Friede und Freundschaft!"
Die Lehrerin blickte überrascht auf. Ihre Augen wurden groß, als sie erkannte, wer sie besuchen kam.
„Kaff ...", sagte sie. „Kaff Chiriatha! Das ... kann doch nicht wahr sein!"
„Ich bin es", bestätigte die Galornin mit einem unsicheren Lächeln.
Kaif war sich nicht sicher gewesen, wie die Erzieherin auf ihr Erscheinen reagieren würde. Sie hatte ihr viel Ärger und Schmerzen bereitet. Als Erwachsene hatte sie sich oft dafür geschämt, denn Seda Golaer hatte stets versucht, ihr und den anderen Schülern die positiven Werte der galornischen Kultur und Gesellschaft beizubringen.
Nur hatten sie damals nicht auf sie gehört. Im Gegenteil, sie hatten sie dafür verlacht und gehaßt.
„Ich bin gekommen, um mich zu bedanken", hörte Kaif sich sagen. „Und um zu reden. Damals konnte ich es nicht. Darf ich es jetzt?"
Die Erzieherin sah sie immer noch über die Maßen verwundert an. Natürlich wußte sie, welche Karriere ihr ehemaliger störrischer Zögling inzwischen gemacht hatte.
Auch sie war inzwischen um fast zweihundert Jahre gealtert, was ihr allerdings kaum anzusehen war.
Nur wer genau hinsah, bemerkte die zusätzlichen Falten in der hellblauen Haut.
„Setz dich, bitte!" wiederholte Seda ihre Worte von vor einhundertachtzig Jahren, und mit der gleichen Geste bat sie Kaif Chiriatha, in der ihrer eigenen gegenüberliegenden Dschungelnische und Hängematte Platz zu nehmen.
Sie schob ihre Bücher und moderneren Datenträger beiseite. Exotische rote Blütenkelche senkten sich auf Kaifs Kopf herab und schienen ihre mentale Aura aufzunehmen.
Seinerzeit waren sie dabei plötzlich verwelkt und abgestorben.
„Du ... ihr habt es nicht leicht mit mir gehabt, oder?" vesuchte Kaif den seltsamen Bann zu brechen, der noch über ihnen beiden lag.
Seda schloß für Sekunden die Augen. Dann atmete sie mit flatternd schlagenden Nasenflügeln heftig ein und sagte mit einem plötzlichen Lächeln: „Das war und ist unsere Aufgabe, Kaif. Wir mußten von Anfang an lernen, mit der Aggressivität der uns Anvertrauten zu leben. Aber wir wußten, was auf uns zukäme, als wir uns für diesen Beruf entschieden.
Allerdings ... gab es bis heute keine Kinder, die es mit dir und mit Lopt an Wildheit und Aggressionen hätten aufnehmen
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