188 - Der Rattenkönig
Raymond spielten Steckschach. Raymond spielte deshalb besser, weil er es seinem Bettnachbarn erst in dieser Woche beigebracht hatte.
Zuerst hatte es Totter nicht lernen wollen. »Das ist mir zu langweilig«, hatte er gesagt. »Ich kenne das vom Fernsehen. Da sitzen sie sich stundenlang gegenüber, raufen sich die Haare, grübeln, daß ihnen der Schädel raucht, und nichts passiert. Diesem Spiel fehlt die Action.«
»Du kannst ja nach jedem Zug ein Rad schlagen«, erwiderte Raymond. »Hör mal, ein Mann muß Schach spielen können, sonst ist nichts los mit ihm. Man nennt es nicht umsonst das Spiel der Könige.«
»Weil man dafür soviel Zeit wie ein König braucht. Die tun den ganzen Tag ja nichts anderes, als ihre Krone herumtragen.«
Es half nichts - Totter mußte das Spiel lernen, ob er wollte oder nicht. Er stellte sich nicht besonders geschickt an.
»Schach - und matt«, sagte Raymond grinsend. »Soll ich dir Revanche geben?«
»Ob das Schachbrett zurückkommt, wenn man es zum Fenster hinausschleudert?«
»Ein Schachbrett ist kein Bumerang. Also, was ist mit einer Revanche?«
»Ich muß mal für Königstiger«, erwiderte Totter. »Du kannst schon mal ohne mich anfangen.«
»Bleib nicht zu lange draußen, sonst suche ich mir einen anderen Partner.«
»Das würde mich echt treffen«, gab Totter grinsend zurück, während er in seinen Schlafrock schlüpfte. »Ich denke, ich werde eine ganze Zeit brauchen.«
»Wenn dir Dr. Hodac auf dem Flur begegnet, nimm dich in acht«, spöttelte Raymond. »Der mag dich nämlich nicht. Er könnte dir ein Bein stellen.«
Mike Totter verließ das Zimmer. Schwester Loretta kam ihm entgegen.
Sie trug Blutplasma. Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln, das sie erwiderte. Gleich darauf betrat er die Toilette. Er setzte sich und griff nach der zusammengefalteten Illustrierten, die auf dem Klopapierabroller lag.
Jemand hatte freundlicherweise Lesestoff für ihn dagelassen. Er vertiefte sich sofort in die Lektüre.
Das erste leise Fiepen überhörte er. Vielleicht ging es auch im Geräusch des Umblätterns unter. Beim nächsten Rattenpfiff ließ er die Illustrierte sinken und hob mit zusammengezogenen Augenbrauen den Kopf.
Ihm fiel sein merkwürdiger Traum ein - und er bildete sich immer noch ein, daß ihn Dr. Hodac wie eine Ratte angestarrt hatte. Er weigerte sich anzunehmen, daß es tatsächlich Ratten im St. Paul’s Hospital gab, das wäre ja ein Skandal sondergleichen gewesen.
Aber Totter war unruhig geworden.
Ihm verging alles. Er konnte die ›Sitzung‹ beenden.
Nervös legte er die Illustrierte weg. Etwas huschte über seine Füße. Er zuckte erschrocken zusammen, riß die Beine hoch und spürte einen heftigen Schmerz in der Leistengegend. Solche ruckartigen Bewegungen taten ihm nicht gut.
Von einer Ratte war nichts zu sehen, aber Totter war davon überzeugt, daß mindestens ein solches Biest in der Nähe war. Vielleicht hielt es sich auch in der Nachbarkabine auf - oder im Vorraum.
Er erhob sich hastig, brachte seine Kleider in Ordnung und betätigte die Spülung. Aufgewühlt sagte er sich, daß er in diesem Krankenhaus nicht sicher war.
Du solltest es verlassen, bevor dir etwas zustößt, dachte er. Du bist hier in Gefahr. Tom grinst zwar blöd, wenn du es behauptest, aber es stimmt.
Wenn er zum Chefarzt ging und seine Entlassung hartnäckig forderte, mußten sie ihn gehen lassen. Schließlich befand er sich in keiner Strafvollzugsanstalt. Sie konnten ihn nicht gegen seinen Willen hier festhalten. Sie könnten ihn höchstens darauf aufmerksam machen, daß sie in diesem Falle jede Verantwortung ablehnten und er sich auf eigene Gefahr nach Hause begab.
Okay, überlegte er, ich werde alles unterschreiben, was sie mir vorlegen, damit ich keine weitere Nacht in dieser Klinik verbringen muß.
Er öffnete den Riegel, stieß die Tür auf und prallte mit einem heiseren Aufschrei zurück.
Der Vorraum war voller Ratten!
***
Als Cruv die Augen aufschlug, sah er Tucker Peckinpah. »Sir!« stieß er krächzend hervor. Benommen richtete er sich auf. Er stellte fest, daß er seine Melone verloren hatte, aber der Ebenholzstock lag neben ihm.
Der Industrielle sagte nichts, blickte ihn nur ernst an.
Dem Gnom fiel der unrühmliche Ausgang seines Kampfes gegen Morron Kull ein. Er schaute sich suchend um, wähnte sich mit Tucker Peckinpah allein, kam ächzend auf die wackeligen Beine und hob seinen Stock auf.
»Waren Sie hier, als Morron Kull mich herbrachte?«
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