1883 - Die schiffbrÃŒchige Stadt
Wissenschaftlern", unterstellte Tyra Ndoram von hinten. „Stimmt’s, Loura?"
Die Zweite Bürgermeisterin hielt es nicht für nötig, ihr eine Antwort zu geben. Statt dessen konzentrierte sie sich auf den Flug.
Jenseits der Fabrik lagen die ersten Wohnviertel. Die meisten wurden von Angestellten bewohnt. Man konnte das sehen; die Gärten waren lieblos gestaltet, fast immer von Servo-Robs gepflegt, und den Häusern fehlte die persönliche Note, die eine Stadt lebenswert machte.
Der Übergang zu den antiken Vierteln kam abrupt. Statt moderner, durchkomponierter Zweckbauten säumten in Erdtönen verputzte Paläste die Straße. Zahlreiche Elemente erinnerten an das Indien vor dem Dolan-Krieg. Besonders die Götterbilder fielen ins Auge. Kitschige Statuen standen an jeder Ecke, geschmückte Altäre an den Fußwegen. Kalkutta versuchte, seine Tradition lebendig zu halten.
Loura Gaikunth fand manches übertrieben und geschmacklos, vieles dagegen wunderschön.
Die Bürgermeisterei befand sich am westlichen Ende des Faktorelements.
Loura ließ Lentini landen, dann bat sie ihn, die laufende Polizeiaktion zu überwachen. Trotz persönlicher Schwierigkeiten konnte es an seiner Qualifikation keinen Zweifel geben.
Gemeinsam mit Tyra und Dimo ging sie hoch bis in den dritten Stock. Sie schickte die wissenschaftliche Referentin an die Arbeit - wie immer die auch aussah -, und betrat mit Dimo ihr Büro.
Loura wollte aufatmen; einen Moment die Ruhe genießen; hoffen, daß es in diesem Moment geschah, daß der Spuk so endete, wie er begonnen hatte.
Statt dessen fiel ihr Blick auf Matoto. Der kleine Elefant lag reglos auf dem Teppich.
Auf den ersten Blick dachte sie noch, er sei eingeschlafen, aber er regte sich nicht einmal, als die Tür klappte. Kleine Elefanten hatten ein ausgezeichnetes Gehör. Matoto war demnach krank, bewußtlos oder ... Sie weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu führen.
Matoto kannte das Büro, er hatte viele Stunden hier herumgespielt, besonders in den ersten Monaten.
Was sollte passiert sein? Loura Gaikunth fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihn zurückgelassen hatte.
„Was hat er denn?" fragte Dimo verstört.
„Ich weiß nicht", versetzte sie. Loura kniete neben dem Kleinen nieder.
Sie fühlte seinen Körper, er war noch warm. Außerdem konnte sie seinen Atem spüren. „Shiwa sei Dank, er lebt", murmelte sie.
Dimo ging um den Schreibtisch herum.
„Er hat hier alle Schubladen aufgerissen. Wahrscheinlich war ihm langweilig."
Der Dummkopf lachte. Loura wußte wirklich nicht, was es zu lachen gab.
„So lange bleibt er sonst nie allein", hörte sie sich sagen. „Aber was hat er angestellt?"
Dimo hob plötzlich eine Schachtel hoch. Sie bestand aus Pappe und war an einer Seite zerrissen. „Das da hat er wohl aufgefressen. Die Schachtel lag hier."
Louras Augen wurden groß. „Das sind ... meine Magentabletten! Der Racker hat meine ganzen Tabletten gefressen!"
Die Ursache der Bewußtlosigkeit schien ihr mit einemmal klar. Matoto hatte sich vergiftet.
Der Kleine mußte in eine Klinik, und zwar so schnell wie möglich. Die nächste befand sich in vier Kilometern Entfernung. Loura sprang auf, lief zum Stadtplan und verglich, ob die Klinik sich innerhalb der Grenzen des Faktorelements befand. Sie hatte Glück. Mit einem Gleiter konnte sie die Klinik in wenigen Minuten erreichen.
Loura bückte sich und hob den kleinen Elefanten hoch. Er war ein ausgewachsener Kerl und wog mindestens zwanzig Kilogramm. Obwohl sie eine kräftige Frau war, spürte sie die Last schmerzhaft im Rücken.
„Du gehst zu Mormon Gessip", schärfte sie Dimo ein, „dem Beauftragten für Datenschutz. Sag ihm, ich mußte schnell weg und komme wieder, sobald es geht. Hast du das verstanden?"
Dimo nickte eifrig. „Klar’ hab’ ich. Und was ist mit dem Kleinen?"
„Den kriegen wir schon wieder hin."
Loura stieß die Tür auf, eilte mit Matoto im Arm zum Antigrav, ließ sich durch den Schacht ins Parkdeck nach oben tragen. Das war angenehm, weil es im Antigrav keine Schwerkraft gab und der kleine Elefant sein Gewicht verlor.
Sie legte ihn auf die Rückbank ihres Gleiters. „Okay, Kleiner ...", murmelte sie. „Wir sind schon auf dem Weg."
Sie kam sich verantwortungslos vor, daß sie sich um Matoto kümmerte statt um Kalkutta. Aber auch eine Zweite Bügermeisterin hatte ein Recht auf menschliche Gefühle. Die Dinge würden ihren Gang nehmen, notfalls eine Stunde ohne
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