1886 - Nach der Apokalypse
Mimi.
Sie folgte der Weisung des ausgestreckten Zeigefingers. Interessant, daß er „sind" sagt, dachte sie, denn die Menschen sind doch tot.
Dann fiel ihr alles wieder ein.
Sie senkte den Kopf. „Mama und Papa", gab sie leise Auskunft.
„Das tut mir leid", sagte der Mann betroffen.
Mimi erzählte von dem Versuch ihres Vaters, Medizin für die verletzte Mutter aufzutreiben, und wie sie sich auf die Suche nach ihm und etwas zu essen gemacht hatten.
„Ich glaube, er hat es nur bis hierher geschafft", sagte sie. „Als Mama ihn gesehen hat, ist sie ganz seltsam geworden. Sie hat sich neben ihn hingelegt und ist eingeschlafen. Sie hat nicht mehr mit mir gesprochen. Ich bin auch sehr müde gewesen, und deshalb hab’ ich mich auch hingelegt und ein bißchen geschlafen. Und als ich vor Hunger aufgewacht bin, war sie immer noch still. Ich hab’ sie angefaßt, und da war sie ganz kalt. Sie ist einfach gestorben und hat mich allein gelassen."
„Da hast du wohl viel weinen müssen, oder?" wollte der Mann wissen.
Miini schüttelte langsam den Kopf. Ihre dunklen Augen waren auch jetzt groß und klar, vollkommen trocken. Warum sollte sie weinen? Sie war ganz allein.
Nein. Jetzt nicht mehr. Erst langsam dämmerte es ihr, daß es noch andere außer ihr gab, nicht nur Tote.
„Meine arme Kleine", stieß der Mann erschüttert hervor und schloß sie fest in seine Arme.
Etwas löste sich in Mimi, als sie die schützende Berührung spürte. Ein Zittern durchlief ihren .Körper, und sie spürte einen dicken Kloß in der Kehle, aber sie schluckte ihn tapfer hinunter. Sie würde den Erwachsenen zeigen, daß sie nicht mehr bei jeder Gelegenheit losheulte. Sie wußte genau, daß sie dann eher ernst genommen und nicht mehr dauernd wie ein dummes Kleinkind behandelt wurde.
Dann schob sie den Mann mit Nachdruck von sich.
„Ich habe Durst und Hunger", gestand sie, nicht gerade vorwurfsvoll, aber doch recht nachdrücklich.
Von Umarmungen wurde sie nicht satt.
Der Mann verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. „Nun, dagegen kann ich etwas tun." Er kramte in seiner Ausrüstung herum und brachte tatsächlich etwas Nahrhaftes hervor. Natürlich alles konzentriert, aber wenigstens sättigend und stärkend.
Während Mimi hastig aß und trank, erzählte sie weiter: „Ich wußte nicht, wo ich hingehen sollte, und da waren auch wieder Dscherro."
Auf einmal waren sie wieder erschienen, auf ihren Ein-Mann-Chreschen, und hatten die ganze Gegend abgesucht, mit Lärm und Karacho. Mimi war zuerst in ihrem Kummer versunken, dann vor Angst so gelähmt gewesen, daß sie sich von dem offenen Platz nicht wegrührte. Sie kauerte sich lediglich dichter an die Toten und stellte sich selbst tot. Die Dscherro rasten über sie hinweg und beachteten sie nicht. Mehr wußte Mimi nicht mehr.
„Du bist ein sehr tapferes Mädchen", lobte der Mann. „Hattest du denn gar keine Angst?"
„Ich weiß nicht mehr", log Mimi. Um nichts in der Welt hätte sie das zugegeben.
Der Mann streckte ihr die Hand hin. „Jetzt sollten wir uns erst mal vorstellen, bevor wir weiterreden: Ich bin Harro Gestyyhl."
Mimi ergriff seine Hand und drückte ‘sie, wie sie es bei den Erwachsenen beobachtet hatte. „Und ich bin Miamar Sar, aber alle nennen mich Mimi", stellte sie sich vor.
*
„Das hätten wir also geklärt", meinte Harro nach einer Weile, als Mimi satt war und ihn erwartungsvoll anschaute.
„Was wirst du jetzt machen, Mimi?"
Mimi zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht."
„Na ja, du willst doch nicht die ganze Zeit hier sitzen bleiben, oder?"
Das Mädchen schüttelte langsam den Kopf.
„Gibt es einen Ort, wo du hingehen möchtest?"
„Nein."
„Irgendwelche Großeltern, Kusinen, Onkel oder Tanten?"
„Nein." Mimi deutete auf die rau-, chenden Ruinen von Kanchenjunga. „Irgendwo dort haben wir gewohnt. Ich weiß nicht mehr, wo. Es ist alles verändert. Wahrscheinlich ist die Wohnung nicht mehr da. Nichts ist mehr da."
Sie sagte es nicht resigniert, sondern beinahe aggressiv, als ob Harro das noch nicht bemerkt hätte und sie ihn immer wieder darauf hinweisen mußte.
„Na schön, Mimi", sagte Harro mit einem fast schon fröhlichen Unterton. Er schien alles ziemlich leichtzunehmen. Sie konnte ihm deswegen aber nicht böse sein, denn er war sehr nett. „Wenn du also nichts anderes vorhast, könnten wir uns .doch genausogut gemeinsam auf den Weg machen. Was meinst du?"
Sie hob langsam die Schultern.
„Ich könnte dich irgendwo
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