1886 - Nach der Apokalypse
sich selten in weiterem Umkreis und hielt sich meistens nur in einem bestimmten Teil des Gebäudes auf. Bré hatte den Raum als notdürftiges Lager eingerichtet und packte die mitgebrachte Nahrung und das Tuch aus.
„Du bist immer noch Genhered, auch wenn du nun den Status eines Sündenträgers hast", sagte sie und hielt ihm das Tuch hin. „Du wirst dir den Umhang wieder verdienen, aber du darfst dich nicht von allem lösen."
„Ich habe dir doch bereits gesagt, daß meine Strafe verdient war und ich sie angenommen habe", erwiderte der Nonggo.
„Aber du bürdest dir eine zusätzliche Strafe auf, indem du den Umhang ablegst, obwohl er dir gelassen wurde. Warum? Ist das richtig?"
Genhered gab keine Antwort, er schien verwirrt. Dann griff er schweigend nach dem Tuch und wickelte es sich um den Körper. Er sah sich wohl als Büßer, hatte sich aber noch nicht ganz aufgegeben.
Bré atmete auf. Jetzt konnte sie weiterarbeiten.
Als erste Daten forderte Bré die soziologische Ordnung der Nonggo an, um den entsprechenden Hintergrund für die aktuellen Geschehnisse zu erhalten.
Die Informationen waren visuell sehr gut aufbereitet worden, und Genhereds Aufmerksamkeit wurde durch die holographischen Abbilder tatsächlich geweckt.
Und dann, zum ersten Mal, rührten sich Muskeln in seinem Gesicht. Er zog den Mund in die Breite, das Zeichen für Verwunderung. Und dann, zaghaft, zeigten sich erste Fältchen unterhalb der Wangen. Er war erregt, angespannt!
Aufgrund der bisherigen Erfahrungen konnte die .Psychologin erkennen, daß Genhered nicht freudig erregt war, sondern daß ihn das Gehörte bewegte und seine verschütteten Erinnerungen alle oder nur einen Teil - schmerzlich wachrief. Der Anfang war endlich getan!
*
Um. Genhered nicht zu sehr zu verausgaben, machte Bré Tsinga eine Pause. Der Nonggo schien intensiv über die empfangenen Informationen nachzudenken und sie mit seinen wiedergefundenen Erinnerungen zu vergleichen.
Die Psychologin konnte sich lebhaft vorstellen, welches Durcheinander nun in ihm herrschen mochte.
„Lassen wir ihn ein wenig allein und essen etwas, ich habe ziemlich Hunger", schlug sie dem Arkoniden vor.
„Genhered ist nicht einfach ein Ausgestoßener in unserem Sinne", faßte sie während des Essens zusammen. „Das Sündenträger-Prinzip geht anscheinend sehr viel weiter. Der Ausschluß von den Neuronen bewirkt eine fatale Isolation. Genhered ist praktisch blind, taub und ohne Tastsinn. Er kann den Kopf so oft schief legen, wie er will, ein Tauchen ins Netz ist nicht mehr möglich. Kein Wunder, daß er dabei das Gedächtnis verloren hat. Zudem ist ihm das Sündenrad verwehrt worden, so daß er nicht einmal mit Leidensgenossen zusammensein kann."
„Und das finde ich merkwürdig", entgegnete Atlan. „Die Nonggo betrachten dieses Prinzip als unerläßlich, um das übrige Volk zu schützen und von aller Schuld zu entlasten. Das ist für sie keine Bestrafung, sondern ein fester Bestandteil ihrer Kultur. Auch die Sündenträger empfinden das so - als logisch, unabwendbar und keineswegs grausam oder strafend. Deshalb gehört es dazu, diese Sündenträger nicht einfach zu töten oder ins Nirwana zu schicken, sondern auf dem Sündenrad abzusetzen, wo sie sich immer noch als Teil der Nonggo-Kultur betrachten können und unter ihrem Status nicht allzusehr leiden. Die Gemeinschaft auf dem Sündenrad hilft ihnen, über den Schock, ohne Neuron leben zu müssen, einigermaßen hinwegzukommen."
„Klingt nachvollziehbar", warf Bré ein.
„Genhered aber ist allein. Er ist einfach ausgesetzt worden, von Zygonod und Galtarrad zum Tode verurteilt, wenn wir ihn nicht gefunden hätten. Weshalb? Warum haben sie ihn nicht mitgenommen, um in der Heimat die Strafe zu vollziehen?"
Bré machte ein erstauntes Gesicht. „Es scheint ganz so, als wollten sie mit allen Mitteln verhindern, daß er ein relativ normales Leben führen kann. Vielleicht hätte er sich eines Tages daran gewöhnt, ohne Neuron zu leben."
„Dann wäre seine Bedeutung aber sehr viel größer, als er uns bisher weisgemacht hat."
„Und die Nonggo verbergen eine Menge vor uns, wasnicht in diesen Daten enthalten ist." Bré lehnte sich zurück und kaute nachdenklich auf einem gelben Gemüsestengel herum. „Das Problem ist, wir dürfen Genhered nicht zu sehr überfordern, sonst könnte er einen Rückfall erleiden. Und wenn er sich an alles erinnert, können wir immer noch nicht sicher sein, daß er bereit ist, uns alles zu sagen."
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