189 - Die Regenbogenschlange
den Stamm der Lira Aranda, die fortan Diener der Großen Schlange sein sollten. Sie gebar einen Sohn, der den neuen Beginn darstellen sollte, und bevor sie sich wieder auf die Reise zu den Ahnen begab, erhielten die Lira Aranda ein Ei der Schlange.
Und dies war das Zeichen: Wenn der Ruf der Schlange erklang, sollten die Lira Aranda das Ei zum Uluru bringen und fortan dort leben dürfen, geläutert und in Frieden.
Das Zeichen wurde im Schlund verborgen, in einem Spalt tief in der Erde, damit es nicht vor der Zeit geholt werden konnte, denn die Lira Aranda wollten keinen Fehler mehr machen.
***
Sie waren jenseits der Zeit. Immer wieder liebten sie sich.
Chris hatte vergessen, woher er kam. Er war jetzt Anangu. Er war auserwählt. Gemeinsam mit Tjara trank er einen süßen Saft, der die Sinne benebelte und zugleich dafür sorgte, dass er sich und seine Umgebung wahrnahm, wie er es nie zuvor gekonnt hatte. Sein Geist war offen und voller Magie. Er flog mit den Papageien, kletterte mit Koalas, jagte mit den Dingos durch die Wüste, huschte mit Spinnen und Schlangen in Büsche.
Immer wieder zog Tjara ihn auf sich oder setzte sich auf ihn, um ihn seinen Körper spüren zu lassen wie niemals zuvor. Es erschien Chris, als habe er schon immer hier gelebt, als sei er ein Teil der Wüste und des Landes. Der Anblick von Tjaras ebenmäßigem Körper machte ihn glücklich. Wenn er in ihr Gesicht sah, sah er seinen Platz in der Welt.
Als die zehn Männer mit Speeren kamen, um sie beide abzuholen, war Chris weder erstaunt noch furchtsam. Alle zehn Anangu waren rituell bemalt. Auch er und Tjara trugen wilde Muster auf ihren nackten Körpern. Ein alter Mann bemalte Tjara den Rücken. Die rituelle Musik von Schwirrhölzern kam aus unbestimmter Ferne.
Tjara gab Chris erneut von dem süßen Saft zu trinken.
»Wir werden Yurlunggur versöhnen«, flüsterte sie freudig.
»Der große Tag ist endlich da. An diesem Vollmond können wir einlösen, was so lange nicht sein konnte.«
Chris umarmte sie. »Wir holen das Ei der Schlange und tragen es zum Uluru, wie du es in deinen Träumen gesehen hast.«
Sie schmiegte ihre Wange an seine. »Gemeinsam schaffen wir alles«, versprach sie ihm mit ihrer singenden Stimme.
In Trance gingen sie zwischen den zehn Männern. Er spürte die Steine und das harte Gras unter seinen nackten Füßen nicht.
Auch die Länge des Weges hatte keine Bedeutung.
Chris wusste, dass er keine Wahl hatte, als seiner Bestimmung zu folgen. Die Anangu würden ihn niemals gehen lassen. Aber er wollte es auch nicht mehr.
Tjara hatte ihm die Welt und sein innerstes Selbst gezeigt.
Sie hatte ihm all die Türen geöffnet, die jahrelang für ihn verschlossen gewesen waren. Nun tat er ihr einen Gefallen: Er hätte alles getan, was sie von ihm verlangte. Sie war seine Königin und er ihr willenloser Sklave. Zugleich spürte er die Innigkeit, mit der sie ihn liebte. Sie wollte ihm keinen Schaden zufügen.
Der volle Mond ging über der Wüste auf, als sie den Schlund erreichten, wie der Stamm den dunklen Erdriss in der Höhle nannte, der in das Innere der Welt zu führen schien.
»Für Yurlunggur«, verkündete Tjara feierlich. »Für unseren Stamm.«
»Für dich«, antwortete Chris zärtlich.
»Für die Herrin der Welt.« Er fasste ihre Hand.
Gemeinsam stiegen sie in den Abgrund.
***
Nugur sah sie kommen. Er war der Älteste des Stammes und hielt gerade Wache am Schlund, als er Tjara alleine zurückkehren sah. Ihre langen schwarzen Haare waren weiß geworden wie schimmernde Perlen. Ein Strahlen umgab sie, ein Licht, das aus ihr selbst heraus zu kommen schien.
Nugur sank auf seine Knie in den Wüstenstaub. Er wagte es nicht, sie anzusprechen oder auch nur auf sich aufmerksam zu machen. Eines der Geistwesen musste die Schamanin berührt haben. Sie schien um Jahre gealtert und war doch zeitlos wie das ewige Meer. Nugur musste an die Krabbe denken, die ihr Haus abwarf, um neu geboren zu werden. Was auch immer die Schamanin des Stammes jetzt war, sie war nicht mehr die Frau, die in den Schlund geklettert war. Eine andere war aus der Höhle hervorgekommen.
Sie kam mit leeren Händen. Furcht durchzuckte Nugur. Er suchte nach dem jungen Mann, dem Auserwählten, aber er konnte ihn nicht entdecken. War sie gescheitert? Hatte Yurlunggur den fremden Mann nicht annehmen können, da er nicht bei seinem Volk aufgewachsen war?
Sie waren verflucht. Nugur krümmte sich auf dem Boden zusammen. Ein klagender Laut verließ seinen
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