189 - Die Regenbogenschlange
Mund. Er begann zu schreien und zu toben, war außer sich, bis endlich Ruhe über ihn kam und er aufsehen konnte. Über ihm stand die Schamanin. Sie sah gütig zu ihm herab. Ihr Gesicht war ätherisch schön, von einem Schmerz gezeichnet, der jenseits seiner Vorstellungskraft lag.
»Ruf die anderen«, sagte sie ernst. »Ich bringe eine Nachricht von Yurlunggur.«
Der alte Mann sprang auf die Beine und tat wie ihm geheißen. Er sandte Rufe mit dem Schwirrholz in die Wüste.
Es dauerte keine drei Stunden und die zwanzig letzten Lira Aranda waren um ihre Schamanin versammelt. Nur drei von ihnen waren noch Kinder.
Alle hielten sie einen respektvollen Abstand zu Tjara, die am Eingang des Schlundes stand, unbewegt, wie ein Felsen seit Anbeginn der Zeit.
Erst als der Letzte angekommen war, gerufen vom An- und Abschwellen des wummernden Tons, sah Tjara sie an. Ihre schwarzen Augen wirkten größer, ihre Stimme war noch immer melodisch, ein Spiel aus Musik. Zugleich lag in ihren Worten eine Kälte, die Nugur noch nie vernommen hatte.
»Wir gingen zu Yurlunggur, um das Ei zu holen.« Ihre Stimme reichte weithin. »Aber Yurlunggur entschied, dass wir nicht die Richtigen seien. So sind wir gescheitert.«
Keiner im Stamm wagte es, sie zu unterbrechen. Jeder erkannte das Göttliche, das sie umgab.
»Es war die falsche Zeit. Wir waren nicht die Auserwählten. Aber fürchtet euch nicht. Es wird eine Frau geboren werden, die den Geist Yurlunggurs in sich trägt. Eine Frau, die tun wird, was keiner von uns zu tun im Stande war. Bis dahin aber sollen wir darauf verzichten, zum Uluru zu gehen. Der Wohnort der heiligen Schlange ist uns verwehrt. Niemand soll mehr in die Traumzeit gehen, um Kontakt zu IHM aufzunehmen. Ausgestoßen sind wir. Ausgestoßen werden wir sein, bis das kostbare Ei geborgen ist, das in der Tiefe des Spaltes auf seine wahre Erlöserin wartet. Wir müssen hier bleiben und es bewachen, bis es so weit ist.«
Alle sahen sie an. Nugur spürte die Furcht des Stammes und die Verzweiflung, die sich niederdrückend auf die Herzen der Zuhörer legte.
»Unser Stamm wird untergehen«, wagte er einzuwenden.
»Wir müssen weitere Männer hinunterschicken.«
»Sie würden in den sicheren Tod gehen.« Tjara schloss die Augen. »Nur die Auserwählte darf den Weg beschreiten, der uns verwehrt ist, den Weg der tanzenden Bilder. Was jedoch unseren Untergang betrifft: Yurlunggur wünscht nicht unseren Tod. Er wird uns beistehen.«
»Uns verfluchen!«, rief eine der wenigen Frauen klagend.
»Er wird mir wieder eine Fehlgeburt schenken!«
Tjara ging auf die Frau zu, die eilig vor ihr zurückwich.
»Zweifelst du an der Gnade der Weltenschöpferin?«
Die Frau schüttelte heftig den Kopf. Nugur sah die Panik in ihren Augen. Tjara war grausam in ihrer Schönheit. Sie wirkte, als könne sie den Stamm mit einem einzigen Wort vernichten.
»Habt Vertrauen«, sagte die Schamanin leise. »Bald werden wir wachsen.«
Nugur verstand nicht, was sie damit meinte. Die Versammlung löste sich auf und man ließ Tjara in Ruhe. Die Schamanin zog sich in ihre Hütte zurück. Sie schlief viele Tage lang. Als sie erwachte, war große Trauer in ihrem Gesicht, doch noch immer wirkte sie wie ein Halbwesen, das aus einem anderen Reich zu ihnen gekommen war.
Nugur und die anderen mieden sie. Wochen vergingen, in denen er Tjara kaum zu Gesicht bekam. Als er sie wieder traf, stand sie regungslos am Eingang der Höhle, als höre sie einen Ruf aus dem Inneren, der nur für sie bestimmt war.
Der Älteste war überrascht, sie schwanger zu sehen. Ihr Bauch wölbte sich kaum merklich, doch er kannte die Zeichen.
Hatte Yurlunggur ihnen auf diesem Weg eine Botschaft seiner Gnade geschickt? Er beschloss der Schamanin ihr Versagen zu vergeben. Als Einziger kümmerte er sich um sie, half ihr Holz sammeln, als ihr Leib unförmig wurde, und brachte ihr immer die besten Stücke der erlegten Beute.
Tjara ertrug alles ruhig, fast war sie ihm zu ruhig. Sie schien mit ihren Gedanken nicht mehr in dieser Welt zu sein, und Nugur fürchtete, das Geistfieber würde sie holen und sie vernichten.
Über das Geschehen in der dunklen Spalte sprach sie niemals. Es wagte auch niemand, sie direkt darauf anzusprechen. Obwohl der Stamm sie ächtete, da sie versagt hatte, senkten sie doch den Blick in Angst vor ihr.
Sechs Monate darauf tobte ein Sturm in der Wüste, wie es ihn lange nicht mehr gegeben hatte. Es war der Tag der großen Schlange, und der Stamm mühte sich, die
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