189 - Die Regenbogenschlange
sie ein Leuchten im Inneren zu sehen, ein kurzes Aufblitzen, dann hatte sie einen weiteren Höhleneingang erreicht. Dieser war es.
Nur ein Schritt trennte Aruula von ihrer Verpflichtung, die sie eingegangen war, und dem Drang, weiter in die Vergangenheit zu reisen. Sie wusste, sie würde dort unten unglaubliche Dinge finden. Dinge, die selbst Maddrax, der noch aus der Zeit des Wissens vor fünfhundert Jahren stammte, erstaunen würden. Dinge, die die Anangu nie zu ergründen gewagt hatten, obwohl auch sie wissen mussten, wohin der Pfad führte.
Alles zog sie dorthin. Für einen Moment vergaß Aruula, warum sie hier war; sie hörte den fernen Ruf nicht mehr. Der Schlund lockte sie, wollte sie zu sich ziehen, all seine Geheimnisse mit ihr teilen. Sie würde die weiseste und mächtigste aller Frauen werden, weil niemand vor ihr jemals so weit gegangen war.
Sie sollte es tun. Sie spürte, dass sie willkommen war, eingeladen wurde, ihre Neugier zu stillen und die wahren Wunder zu sehen, mit denen alles begonnen hatte.
Noch immer zögerte sie, als sie etwas an ihrem Bein spürte, und dann einen scharfen Stich, der sie herumfahren ließ. Etwas huschte in die Höhle davon, sie hörte das Trappeln von Pfoten.
Aruula schüttelte den Kopf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. In der Höhle war es hell, diffuses Licht fiel durch Kaminschächte herab, fluoreszierende Moose und Flechten schimmerten an glimmerbehafteten Wänden. Hinter ihr lag die Dunkelheit, tröstend und Hoffnung verheißend.
Verkehrte Welt.
Ihr Kopf sank herab, und sie seufzte schwer, erfüllt von unendlicher Trauer, als sie Abschied nahm.
Dann betrat sie die Höhle.
***
Der Weg war leicht zu finden. Es war hier zwar löchrig, mit vielen schmalen Durchlässen und Durchbrüchen, doch es gab nur einen Weg.
Wände und Säulen waren mit wundervollen Zeichnungen bedeckt, die alt, sehr alt sein mussten. Staunend betrachtete Aruula sie, fuhr behutsam die feinen Linien mit den Fingerspitzen nach. Weiß und Ocker herrschten vor, kaum Schwarz. Sie sah fantastische Tiergestalten, und Menschen, die wie die Anangu aussahen. Die Bilder an den Wänden erzählten Geschichten, sie veränderten sich fortlaufend, doch der Zusammenhang war offenkundig. Aruula glaubte auch die Regenbogenschlange zu erkennen, die die Flut brachte, die Anangu-Frauen verschlang, und vieles mehr.
Eine Wand war nur mit Händen bedeckt, vielmehr den Umrissen von ihnen. Die Künstler mussten ihre eigene Hand an den Felsen gelegt und dann eine Mundvoll Farbe darüber gesprüht haben. Keine Hand glich der anderen, und die Symbole dazwischen erzählten gewiss etwas von der Person, die ihre Hand abgebildet hatte.
Und dann sah Aruula, wie eine Frau zu einem Stamm kam, hochschwanger und mit einem Ei in der Hand. Die weiteren Bilder waren sehr abstrakt und schwierig zu deuten, doch sie konnte es sich bereits vorstellen.
Als sie der Wand folgen wollte, zweigte der Weg ab. Nach links verlor sich die Wand in der Dunkelheit, nach rechts ging es durch eine Kaverne hindurch, und Aruula hörte ein fernes Rauschen. Wasser. Ohne zu zögern schlug sie diesen Weg ein und stieß bald auf die ersten Spuren von Menschen.
Nicht nur Bilder an der Wand, die nun eher Alltägliches berichteten, sondern auch versteinerte Hinterlassenschaften: Speerspitzen, Gerätschaften, Holzkohle. Brandspuren an den Wänden, viele schwarze Rauchfahnen längst erloschener Feuer. Und dann Knochen, teils versteinert, teils modernd. Von Tieren und Menschen, alles durcheinander.
Das Rauschen wurde lauter. Aruula gelangte in eine Höhle mit Leuchtmoos und Glimmer, nur schwach erhellt.
Ein paar Schritte entfernt lag ein nahezu intaktes menschliches Skelett, unter ihm noch ein paar zerfallene Kleidungsreste, die Aruula als die eines Mannes identifizierte.
Der Gesichtsform, den starken Augenwülsten nach zu urteilen war er ein Anangu gewesen, doch er hatte Kleidung ähnlich Maddrax und den Technos getragen.
Der Mann lag auf dem Bauch, sein rechter Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete tiefer in die Höhle. Sein Schädel wies ein großes Loch auf.
Er ist ermordet worden, dachte Aruula. Irgendeine Tragödie musste sich hier unten abgespielt haben, deren Hintergründe für immer ein Geheimnis bleiben würden.
Aruula ging tiefer in die Höhle hinein. Das Rauschen steigerte sich zu einem donnernden Wasserfall, der am Ende der Höhle in die Tiefe fiel. Aruula konnte von hier aus erkennen, dass es neben dem Wasserfall steil abwärts
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